Jedes Jahr sterben 18 Milliarden Nutztiere, deren Fleisch im Abfall landet
Wir leben in einer paradoxen Welt: Während weltweit fast eine Dreiviertelmilliarde Menschen an Unterernährung leiden, geht rund ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel verloren oder verdirbt. Das sind etwa 1,3 Milliarden Tonnen pro Jahr, im Wert von ungefähr 940 Milliarden US-Dollar. Und ein nicht unerheblicher Teil dieses Verlusts an Lebensmitteln besteht aus Tieren – Tieren, die für den Fleischkonsum bestimmt waren, deren Fleisch aber nie gegessen wurde.
Die Zahlen dazu, die von einem Team von Wissenschaftlern der Universität Leiden in den Niederlanden erstmals für den gesamten Globus berechnet und im Fachblatt «Sustainable Production and Consumption» publiziert wurden, sind schockierend: Im Jahr 2019 gingen 77,4 Millionen Tonnen Fleisch der sechs wichtigsten Nutztierarten für die Fleischproduktion – Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Puten und Hühner – entlang der Lebensmittelversorgungskette verloren. Dies entspricht etwa 52,4 Millionen Tonnen knochenfreiem, essbarem Fleisch – oder rund einem Sechstel der gesamten weltweiten Fleischproduktion.
Und in diesem Fleischverlust sind die Leben von geschätzt nahezu 18 Milliarden Tieren enthalten, die aufgezogen und getötet wurden, ohne dass ihr Fleisch für die menschliche Ernährung verwendet wurde. 18 Milliarden Tiere – das sind mehr als zwei für jeden Menschen auf der Erde. Aufgeschlüsselt nach Tierarten sind es:
- 74,1 Millionen Rinder (0,4 %)
- 188 Millionen Ziegen (1,1 %)
- 195,7 Millionen Schafe (1,1 %)
- 288,8 Millionen Schweine (1,7 %)
- 402,3 Millionen Puten (2,2 %)
- 16'800 Millionen Hühner (93,6 %)
Regionale Unterschiede
Für die Studie verwendete das Team um Juliane Klaura bewusst Daten aus dem Jahr 2019, um Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Fleischproduktion und -Konsum auszuschliessen. Es zeigte sich, dass die Gründe für den Verlust und die Verschwendung von Fleisch regional unterschiedlich waren. «In Entwicklungsländern treten die Verluste meist am Anfang des Prozesses auf, zum Beispiel, weil Rinder während der Aufzucht an Krankheiten sterben oder weil Fleisch während der Lagerung oder des Transports verdirbt», stellt Klaura in einer Mitteilung der Uni Leiden fest.
In den Industrieländern gehe ebenfalls viel Fleisch verloren, so Klaura, allerdings aus anderen Gründen. Hier seien es meist nicht die Erzeuger, sondern die Verbraucher, die Fleisch verschwenden würden. So legten etwa Supermärkte zu grosse Fleischvorräte an und müssten dann viel davon vernichten. Restaurants würden zu grosse Fleischportionen servieren und Konsumenten würden Fleisch wegwerfen, dessen Verfallsdatum überschritten wurde.
«Die Vereinigten Staaten schneiden besonders schlecht ab, ebenso wie Südafrika und Brasilien», erklärt Klaura. Tatsächlich vergeuden die Einwohner in den genannten Ländern durchschnittlich rund 7, 8 beziehungsweise 5 Tierleben pro Jahr. In Indien hingegen ist die Bilanz wesentlich besser: Dort wird pro Einwohner weniger als ein halbes Tier vergeudet.
Klima und Tierschutz
Die Studienautoren betonen, dass eine Reduktion der Fleischverschwendung nicht nur unmittelbare positive Auswirkungen auf das Wohlergehen der Nutztiere hätte, sondern auch auf das Klima. Ein grosser Anteil der Treibhausgas-Emissionen – es handelt sich um fast 15 Prozent – ist nämlich auf die Tierhaltung zurückzuführen. Wenn es uns gelänge, die Fleischverluste zu verringern, müssten deutlich weniger Tiere gehalten werden, was auch die diesbezüglichen Treibhausgas-Emissionen senken würde.
Da Fleisch jedoch nicht überall auf der Welt auf dieselbe Weise verloren geht oder verschwendet wird, gibt es keinen allgemeingültigen Ansatz, wie der Verlust reduziert werden könnte. «In den Entwicklungsländern wird es eher darum gehen, die Bedingungen für die Tiere und die Lagerung und den Transport von Fleisch zu verbessern», sagt Klaura. «In den westlichen Ländern wird eine Verhaltensänderung den Unterschied ausmachen.»
Letzteres, das weiss Klaura, wird nicht einfach sein. «Die Menschen regen sich leicht auf, wenn ihre Ernährung umgestellt werden soll», sagt sie und verweist auf die Situation in ihrer Heimat Deutschland. Die Leute hätten das Gefühl, dass ihnen etwas weggenommen werde. Und wegen der Emotionen, die das wecke, falle es der Politik schwer, eine rationale Antwort zu finden. «Es kann helfen, klarzustellen, dass Milliarden der jedes Jahr getöteten Tiere gar nicht gegessen werden. Dies kann ein wichtiger erster Schritt zu positiven Massnahmen sein», hofft Klaura. (dhr)
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