Vermutlich wäre vieles anders gekommen, hätte Eren Derdiyok das Tor gemacht an jenem Samstagnachmittag in Saint-Etienne. Als der eingewechselte Schweizer Stürmer im EM-Achtelfinal gegen Polen in der 113. Minute mit seinem Kopfball an Goalie Fabianski scheiterte und die Schweiz später im Penaltyschiessen ausschied, statt 2:1 zu gewinnen. Vielleicht wäre Portugal dann nicht Europameister geworden.
Sicher aber wäre Derdiyok zumindest kurzzeitig ein Nationalheld gewesen und hätte etwas für den angeschlagenen Ruf der rotweissen Sturmspitzen getan. Denn seit Haris Seferovic am 17. November letzten Jahres gegen Österreich zweimal traf, ist kein einziges Schweizer Tor mehr durch einen nominellen Stürmer gefallen. Weder er noch Derdiyok noch Breel Embolo haben auf dieser Position einen Treffer erzielt. Zwar stimmt es, dass es die heutigen Stürmer als Einzelkämpfer schwieriger haben als ihre Kollegen in der Vergangenheit, aber mal ein Tor zu schiessen, hat auch ihnen niemand verboten.
0.20 Tore pro Länderspiel hat Haris Seferovic bisher erzielt. Gar nur 0.19 sind es bei Eren Derdiyok. Toptorjäger Alex Frei im Vergleich hatte eine Quote von 0.5. Geht man davon aus, dass Breel Embolo und Admir Mehmedi auf den Flanken gesetzt sind, dann kommen aus dem aktuellen Nati-Kader nur Seferovic und Derdiyok für die Position der Sturmspitze in Frage. Weil Rackerer Seferovic beim 2:0 gegen Portugal dabei war, dürfte er im Team bleiben, obwohl Derdiyok vor Selbstvertrauen strotzt.
Das würde gewiss liebend gerne auch Seferovic wieder einmal tun. Aber es will und will nicht. Ein halbes Dutzend bester Chancen hatte er bei der EM liegen gelassen, durch aufopfernde Laufarbeit aber viel für die Mannschaft geleistet und zuletzt in der WM-Qualifikation gegen Portugal gar die perfekte Vorarbeit zu einem Tor geliefert. Die Krux: Seferovic trifft auch in der Bundesliga nicht mehr. Seit 24 Partien wartet er auf ein Tor, einzig im Relegationsspiel gegen Nürnberg gelang ihm ein – allerdings entscheidender – Treffer.
Anders sieht es bei Derdiyok aus. Der Mann, der am 25. Mai 2012 beim 5:3 gegen Deutschland mit drei Toren seine Nati-Sternstunde erlebt hatte, trifft für seinen Klub Galatasaray Istanbul fast, wie er will. Fünf Tore in sechs Meisterschaftsspielen sind eine starke Bilanz. Für den Vertrag bei «Gala» hatte er sich in der Vorsaison mit 13 Toren für Kasimpasa empfohlen.
Nun stellt sich allerdings die Frage, was Tore in der türkischen Liga denn wert sind. Wer das ungeschlagene Osmanlispor in der Europa League gegen den FCZ verlieren sah oder konstatiert, dass Mario Gomez in der Türkei umjubelter Torschützenkönig wurde, bei Wolfsburg aber noch kein Tor geschossen hat, könnte am Niveau der Süper Lig schon ein bisschen zweifeln.
Einer, der den türkischen Fussball nach vielen Jahren bei Fenerbahce und Besiktas in und auswendig kennt, ist Roland Koch. Der heutige Sportdirektor des FC Wil sagt: «Ich war letzte Saison noch für Rizespor tätig und hatte Derdiyok gut im Auge. Er hat bei Kasimpasa eine überragende Saison gespielt.» Zu den fünf Toren des Schweizers sagt Koch: «Die muss man auch in der Türkei erst einmal machen.» Allein der Stammplatz bei Galatasaray ist schon ein Leistungsausweis.
Auch Alex Frei, der letzte wahre Schweizer Torjäger, hält viel vom 28-Jährigen. Im September sagte er dem «Tages-Anzeiger»: «Derdiyok hat vieles, was einen Goalgetter auszeichnet. Er ist gross, kopfballstark und beidfüssig.» Koch gibt noch etwas anderes zu bedenken: «Wer in der Liga viele Tore macht, nimmt viel Selbstvertrauen in die Nationalmannschaft mit.» Frei hatte dem «Tagi» gesagt, die Torflaute von Seferovic sei «ein Beispiel, wie wichtig Selbstvertrauen ist.»
Hätte Derdiyok dieses Tor gegen Polen doch bloss gemacht. Dann würde er heute auf dem Platz stehen. Und mindestens ein Tor schiessen. Mit diesem geballten Selbstvertrauen.