
Sag das doch deinen Freunden!
Glücklich ein Land, das solche Probleme hat. Das denkt man immer wieder, wenn wir uns in der Schweiz über den Standort eines Veloabstellplatzes streiten. Oder über Zimmerpflanzen im Bundeshaus. Es geht uns dermassen gut, dass wir fast zwanghaft «Probleme» kreieren, die keine sind. Oder Banalitäten zur Staatsaffäre hysterisieren. Ein besonders schönes – oder vielmehr trübes – Beispiel erleben wir derzeit mit der Handschlag-Kontroverse in Therwil (BL).
Zwei junge syrische Muslime (14 und 15 Jahre alt) aus streng religiöser Familie wollen ihrer Sekundarlehrerin nicht die Hand geben, weil ihr Glaube es verbiete. Die Schulleitung entschied, dass die beiden Schüler niemandem die Hand geben müssen. Kein sehr glücklicher Beschluss, doch die Reaktionen auch in den Medien spotten jeder Beschreibung.
Der verweigerte Händedruck wurde zur Staatsaffäre aufgebauscht. Man erhielt den Eindruck, unsere freiheitliche Gesellschaft sei in ihren Grundfesten bedroht. Heute der Handschlag, morgen die Scharia. Bundesrätin Simonetta Sommaruga mischte sich ein und erklärte in «10vor10», so stelle sie sich Integration nicht vor. Selbst die Religion wurde bemüht: Sollte sich unsere säkulare Gesellschaft angesichts der islamischen «Bedrohung» auf das Christentum zurückbesinnen? «Schweiz ohne Gott?» lautete die bange Frage in der letzten SRF-«Arena».
Gott? Oh Gott!
Der Bedeutungsverlust der Religion im heutigen Europa ist keine Tragödie, sondern ein Fortschritt. Das trifft auch auf die Muslime zu. Laut einer Studie praktizieren mehr als 80 Prozent der hiesigen Muslime ihren Glauben gar nicht oder pragmatisch. Sie trinken Alkohol, essen Schweinefleisch und akzeptieren die Selbstbestimmung der Frauen. Dennoch wirft man sie in den gleichen Topf mit den Fanatikern, die sich und andere Menschen in die Luft sprengen.
Mehr als 80 Prozent der hiesigen Muslime sind moderat, aber gefühlte 99 Prozent aller Medienberichte über den Islam sind negativ aufgeladen. Wie würden wir reagieren, wenn die Schweiz in der Welt nur noch als willige Unterstützerin von Steuerflüchtlingen wahrgenommen würde? Wir wären empört. Aber unsere Muslime, die müssen sich das gefallen lassen.
Es passt in dieses Bild, dass islamische Splittergruppen in unseren Medien eine Präsenz erhalten, die ihre marginale Bedeutung weit übersteigt. Das gilt sowohl für die Extremisten des Islamischen Zentralrats (IZRS) wie das Forum für einen fortschrittlichen Islam auf der Gegenseite. Nicolas Blancho und Saïda Keller-Messahli werden in den Medien oft und gerne befragt und thematisiert. «Normale» Muslime interessieren niemanden, die müssen sich das einfach gefallen lassen.
Dabei muss es in aller Deutlichkeit gesagt werden: Der verweigerte Handschlag von Therwil ist ein Einzelfall. Gleiches gilt für Kopftücher an den Schulen oder die Nicht-Teilnahme am Schwimmunterricht. Ein flächendeckendes Phänomen liegt weit und breit nicht vor. Und kein Integrationsproblem, auch wenn Simonetta Sommaruga das Gegenteil andeutet.
Denn wir Schweizer sind nicht nur Weltmeister im Kreieren von Scheinproblemen. Wir sind auch Integrationseuropameister. Das sagt der Basler Stadtentwickler und Integrationsexperte Thomas Kessler im Interview mit der katholischen Zeitschrift «Sonntag». Die Schweiz sei «das Land mit dem grössten Integrationserfolg in Europa – und zwar seit Jahrzehnten». Namentlich bei den «harten Indikatoren» wie Bildung, Arbeit und sozialer Aufstieg seien wir die Besten, sagt Kessler.
Muslime sind davon nicht ausgenommen, auch ihre Integration ist eine Erfolgsgeschichte. Dennoch existiert der fatale Irrglaube, man müsste ihnen die hiesigen Tugenden quasi mit dem Vorschlaghammer einprügeln. Etwa mit Minarett- oder Burkaverboten. Gerade Letzteres ist ein Witz. Es gibt in der Schweiz vielleicht eine Handvoll vollverschleierter Muslimas, wenn überhaupt.
Ein Burkaverbot schadet höchstens dem ohnehin leidenden Fremdenverkehr, weil gut betuchte Touristinnen aus den Golfstaaten wegbleiben könnten. Im Tessin haben die Touristiker vergeblich Ausnahmen vom kantonalen Verbot gefordert. Die Initianten um den Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann kümmert das nicht. Er begründet das Verhüllungsverbot mit der Verteidigung der freiheitlichen Gesellschaft. Und tönt dabei wie ein Metzger, der die Vorzüge der veganen Ernährung anpreist.
Denn eigentlich sind Wobmann und Konsorten unsere freiheitlichen Werte ein Dorn im Auge. Sie sehnen sich zurück nach der guten alten Zeit, als die Kirche noch im Dorf stand und die Lehrer ihre Zöglinge mit dem Rohrstock oder der Ohrfeige zur Räson brachten. Die Devise lautete damals: Alles war verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Heute ist es genau umgekehrt: Alles ist erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Und manchmal sogar das.
Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden vermeintlich feste Werte auf den Kopf gestellt. Der Wandel von einer repressiven zu einer permissiven Gesellschaft verlief schnell, für manche zu schnell. Deshalb reagierte die Schule in Therwil dermassen überfordert auf den verweigerten Handschlag. Und deshalb werden Debatten über Religion geführt. Und über eine Leitkultur.
Dieses Konzept ist besonders problematisch. Es atmet nicht nur den Geist der einstigen Enge und des reaktionären Miefs. Es passt nicht zur Schweiz, weil sie multikulturell konstruiert ist. Bei uns prallen Francophonie und Italianità auf deutsche Tugenden, auch wenn dies viele Deutschschweizer nicht gerne hören. Der Streit um den Frühfranzösisch-Unterricht an den Primarschulen ist ein Beleg dafür, wie untauglich die Leitkultur-Idee für uns ist.
Sie wird deswegen gerne abgeschwächt und auf die Werte von Aufklärung und Liberalismus reduziert. Besser wird sie dadurch nicht, denn es sei noch einmal betont: Wir haben kein ernsthaftes Problem bei der Integration von Muslimen. Es gibt keine «Ghettos» wie in Belgien oder Frankreich und keine Scharia-Gerichte wie in Grossbritannien.
Allerdings gibt es durchaus Gruppierungen, die in einer Art Parallelgesellschaft leben. Zum Beispiel streng orthodoxe Juden. Ihre Kinder besuchen eigene Privatschulen, deren Abschlüsse staatlich anerkannt sind. «So kommt es zu keinen Konflikten», meint die «NZZ am Sonntag». Mag sein, aber einige dieser Schulen sind nach Geschlechtern getrennt. «Sind solche Schulen nun ein Zeichen einer erfolgreichen oder einer gescheiterten Integration?» fragt sich der jüdische Publizist Yves Kugelmann im Interview mit dem Reformierten-Magazin Bref.
Eine gute Frage. Die jungen Muslime, deren verweigerter Händedruck die Volksseele zum Kochen bringt, besuchen die Volksschule, in der sie gemeinsam mit Mädchen unterrichtet werden. Ein Aspekt, der vollkommen ausgeblendet wird. Dabei ist die Volksschule einer unserer wichtigsten Integrationsmotoren. So lange sie bleiben, besteht die Chance, dass sie unsere Werte annehmen werden. Die Handschlag-Kontroverse wirkt bloss kontraproduktiv.
Natürlich müssen wir der freiheitlichen Gesellschaft Sorge tragen und wachsam bleiben. Den Einfluss des salafistischen Islam, der vorwiegend von Saudi-Arabien exportiert wird, gilt es im Auge zu behalten. Das beste Gegenmittel ist die Ausbildung von Imamen in unserem Land. Und die Vermeidung von hysterischen Debatten über eine Leitkultur, die eigentlich eine Leidkultur ist. Denn wir tun uns dabei nur selber leid.
In der «Aargauer Zeitung» brachte es der Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider treffend auf den Punkt: «Wer vor der paranoiden Angst heimgesucht wird, eine Gesellschaft könnte sich durch den Einfluss von Einwanderern verändern, hat nichts von der Dynamik moderner Gesellschaften begriffen und sollte vorsichtshalber in Nordkorea einen Asylantrag stellen.»
Ich bin gerne
bereit, das Flugticket nach Pjöngjang zu bezahlen.
In Teilen Deutschlands ist gut ersichtlich, wie schnell sich liberale muslimische Gesellschaften radikalisieren können (meist durch radikale Imame aus der Türkei oder Saudi Arabien und Zuwanderern aus konservativeren Ländern, die die liberalen Muslime tlw. aggressiv sanktionieren).
Uns zu loben, während viele Nachbarländer warnende Beispiele abgeben, halte ich deshalb für verfehlt.