Das Vereinigte Königreich gilt – ob zurecht oder nicht – als Musterbeispiel für Common Sense. Blickt man heute über den Ärmelkanal, drängt sich dagegen ein Wort auf: Nonsense.
Der Brexit hat die britische Politik in ein derartiges Chaos gestürzt, dass kaum noch jemand den Durchblick hat. Am Montag sagte Premierministerin Theresa May kurzerhand die für den folgenden Tag geplante Abstimmung im Unterhaus über den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag ab. Mit diesem handstreichartigen Manöver versuchte sie, eine sichere Niederlage abzuwenden.
Wie es weitergeht, ist völlig unklar. Die EU fürchtete einen ungeordneten Austritt, will den Briten aber nicht weiter entgegenkommen. Nun sind diverse Szenarien möglich: Neuwahlen, eine zweite Brexit-Abstimmung, ein Beitritt zum EWR plus Zollunion, ein Kompromiss in letzter Minute. Die Abstimmung soll spätestens am 21. Januar 2019 stattfinden, rund zwei Monate vor der Deadline.
Aus hiesiger Warte könnte man mit Häme auf den Londoner Polit-Hooliganismus blicken. Doch dazu besteht kein Grund. Die Schweiz hat sich bei der Neuregelung ihres Verhältnisses zur Europäischen Union selber in eine heikle Lage manövriert. Der Versuch, den bilateralen Weg mit einem institutionellen Abkommen (kurz InstA) zu festigen, scheint zum Scheitern verurteilt.
Auf den ersten Blick ist die Ausgangslage unterschiedlich: Das Königreich will raus aus der EU, die Schweizer wollen als Nichtmitglied am EU-Binnenmarkt teilnehmen. «Die Briten wollen die Scheidung, wohingegen wir mit der Schweiz eine eingetragene Partnerschaft anstreben», brachte es Mina Andreeva, Sprecherin und Vertraute von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, auf den Punkt.
Bei genauer Betrachtung aber gibt es Gemeinsamkeiten. Das beginnt mit der Tatsache, dass beide Länder sich die EU vom Leib halten, aber dennoch von ihren wirtschaftlichen Vorteilen profitieren wollen. Und dabei erkennen müssen, dass dies leichter gesagt ist als getan. Ein weiterer Punkt: Beide haben nach einer Volksabstimmung viel Zeit vergeudet.
Nach dem knappen Ja zum Austritt im Juni 2016 waren die Briten geschlagene zwei Jahre vorwiegend mit internen Streitigkeiten beschäftigt. Theresa May, die den glücklosen David Cameron als Premierministerin abgelöst hatte, verschärfte das Problem durch vorgezogene Neuwahlen im Juni 2017, bei denen ihre konservative Partei die Mehrheit im Unterhaus verlor.
In der Schweiz warf das noch knappere Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative am 9. Februar 2014 Sand ins Getriebe. In den folgenden drei Jahren versuchte der Bundesrat vergeblich, in Brüssel Zugeständnisse bei der Personenfreizügigkeit herauszuholen. Parallel dazu liefen die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen auf Sparflamme.
Das führte in Britannien und der Schweiz zu einem grossen Zeitdruck. Am 29. März 2019 wird der Brexit fällig. Bis dann muss ein «Scheidungsvertrag» stehen, damit die vereinbarte Übergangsfrist bis Ende 2020 in Kraft treten kann. Die Schweiz kennt keine solche Deadline, doch die EU hat klar zu verstehen gegeben, dass ihre Geduld zu Ende geht und sie endlich eine Entscheidung erwartet.
Verschärft wurde dieses Problem beiderseits durch Führungsschwäche. Theresa May hat nicht nur keine eigene Mehrheit mehr im Parlament, sie steckt im Sandwich zwischen Befürwortern und Gegnern des Brexit. Am Mittwoch überstand sei ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Partei. In der Schweiz hat sich der frühere Aussenminister Didier Burkhalter zu lange auf die «fremden Richter» versteift, doch letztlich hat der Gesamtbundesrat versagt.
Der Zeitdruck führte immerhin dazu, dass in beiden Fällen ein Abkommen zustande kam. Gelöst ist damit nichts, denn es gibt eine weitere Parallele: In beiden Ländern gibt es eine Knacknuss, die einen erfolgreichen Abschluss zumindest in Frage stellt.
In Grossbritannien geht es um den Backstop, eine Auffanglösung, um eine Rückkehr zu Kontrollen an der einzigen Festlandgrenze des Königreichs zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern. Das geht eigentlich nur bei einem Verbleib in der Zollunion mit der EU, was wiederum den Abschluss von Freihandelsverträgen verhindert, von denen die Brexit-Hardliner träumen.
Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Die Variante, bei der Nordirland allein in der Zollunion verbleibt, wird von der Unionistenpartei DUP vehement abgelehnt, obwohl auch sie keine Grenzkontrollen wünscht. Auf ihre Stimmen im Unterhaus ist May angewiesen. Und von einer einseitigen Kündigung des Backstop – eine Mindestforderung der Brexiteers – will die EU nichts wissen.
Die Schweizer «Hürde» sind die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping. Die Gewerkschaften haben sie zur «roten Linie» und damit für nicht verhandelbar erklärt. Die EU will sie im InstA nur in stark abgeschwächter Form akzeptieren. Der Bundesrat will dem Abkommen deshalb nicht zustimmen, sondern in den nächsten Monaten «Konsultationen» durchführen.
Die Situation erinnert in beiden Fällen dem sprichwörtlichen Gordischen Knoten. Die Briten haben immerhin die Option, das Austrittsgesuch einseitig zurückziehen und auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat dazu am Montag grünes Licht gegeben. Sie könnten den Ist-Zustand weiterführen, ohne Schaden für die Wirtschaft.
Die Schweiz hingegen muss bei einem Scheitern des InstA damit rechnen, dass die EU mit Gegenmassnahmen reagiert und der bilaterale Weg zunehmend erodiert. Ein Ausweg aus der verfahrenen Lage ist nicht in Sicht, die Fronten bei den flankierenden Massnahmen scheinen verhärtet. Aus der Bundesratssphäre sind defätistische Töne zu vernehmen.
Die Schweiz und die EU steuern auf ein Schwarzpeterspiel zu. Jede Seite will die Verantwortung für den Fehlschlag auf die andere abschieben. Die EU hat mit der voraussichtlichen Verlängerung der Börsenanerkennung um sechs Monate den Ball der Schweiz zugespielt. Gewinner kann es dabei keine geben. Common Sense ist derzeit auch in der Schweizer Politik ein rares Gut.