Es herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung im Land. Schulen, Läden und Restaurants werden auf Hochglanz geputzt und so eingerichtet, dass sie den Schutzkonzepten genügen. Das klappt nicht reibungslos. Viele Eltern ärgern sich über Kantone, die vorerst auf Halbklassen-Unterricht setzen, was ihren Alltag zusätzlich verkompliziert. Beizen und Shops stellen sich auf weniger Kunden ein.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Insgesamt aber dominiert die Vorfreude. Nach acht Wochen Zwangsschliessung geht es am nächsten Montag wieder los. Der Öffnungsschritt fällt deutlich grösser aus als vom Bundesrat ursprünglich geplant, doch die Schweiz ist nicht allein. Viele europäische Länder beginnen, aus der Corona-Schockstarre zu erwachen, und getrauen sich langsam zurück in die Normalität.
In den Ländern Italien und Spanien, die das Virus besonders heftig heimgesucht hat, dürfen die Menschen wieder auf die Strasse. In Deutschland, das die Krise bislang im Griff hat, werden die Regeln ab nächster Woche deutlich gelockert. Bald gibt es wieder Bundesliga-Fussball, wenn auch in Form von Geisterspielen. Selbst Grenzöffnungen sind eine realistische Perspektive geworden.
Die sinkenden Fallzahlen machen es möglich. Im Spital von Bergamo, wo die Zustände auf dem Höhepunkt der Krise jenseits des Erträglichen waren, herrscht wieder Normalbetrieb. Die positive Entwicklung der Infektionskurve spielt auch der vermeintlich riskanten Öffnungsstrategie des Bundesrats in die Hände. Seine Sitzung am Freitag dürfte die ruhigste seit Februar werden.
Vereinzelt räumen sogar Epidemiologen ein, dass die «Kollateralschäden» des Lockdown für Gesellschaft und Wirtschaft auf längere Sicht grösser sein könnten als die direkten Folgen der Pandemie. Allerdings mahnen sie weiter zur Vorsicht. Das sieht auch die Mehrheit der Bevölkerung so, doch die Stimmen, die dem Bundesrat fast blind vertrauten, sind leiser geworden.
Dafür melden sich immer mehr Leute zu Wort, die dem Bund Übertreibung vorwerfen, so etwa der Andermatt-Investor Samih Sawiris («In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert Tote weniger gibt»), DJ Antoine («Corona ist ein Medienhype»), und sogar Finanzminister Ueli Maurer himself zweifelt («Ich frage mich, ob das wirklich notwendig war»).
Eine Tamedia-Journalistin findet sogar, man solle bei einer Rückkehr zum Normalbetrieb nicht ständig die Risiken betonen: «Wir brauchen Mut und Zuversicht. Keine Hinweise auf Risiken. Diese sind nicht nur müssig, sondern auch schädlich. Sie schüren Angst. Und Angst ist Gift.»
Corona? War da was?
Die Kollegin verlangt «gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse» als Grundlagen für unser soziales, politisches und wirtschaftliches Leben. Genau das aber ist das Problem. Wir wissen noch viel zu wenig über das neuartige Coronavirus. So ist nach wie vor unklar, ob das wärmere Wetter die Virulenz mindert und wir dafür im Herbst in eine umso heftigere zweite Welle schlittern.
So lange diese Gefahr besteht, ist ein unbeschwerter Aufbruch in die «neue Normalität» brandgefährlich. Erste beunruhigende Anzeichen in diese Richtung gibt es. So hat der Verkehr auf den Strassen deutlich zugenommen. Selbst am letzten Samstag, als das Wetter kühl und trüb war und erst die Gartencenter und Baumärkte geöffnet hatten, rollte er fast wie vor Corona.
«Safety first» bleibt die Devise, nach der wir uns richten müssen. Das bedeutet im Minimum die bekannten Regeln, also Hände waschen und Abstand halten. Dem Bund und der von ihm beauftragten Zürcher Werbeagentur Rod wird es so oder so schwer fallen, sich mit ihren Durchhalteparolen weiterhin Gehör zu verschaffen. Irgendwann hat man es gesehen und gehört.
Problematisch bleibt deshalb auch die Kommunikation des Bundesrats, und das betrifft nicht nur Ueli Maurers «Querschläger-Interview» in der NZZ, das «zufällig» genau am Tag der letzten Bundesratssitzung erschienen ist. Selbst Justizministerin Karin Keller-Sutter hat im Interview eingeräumt, dass der Bundesrat die Ankündigung der schrittweisen Öffnung am 16. April verbockt hat.
Wie man es machen sollte, zeigen die Österreicher. Dort hat die Rückkehr zur Normalität bereits am Dienstag nach Ostern begonnen, ohne dass es zu einer Zunahme der Infektionen gekommen wäre. Das liegt auch daran, dass die türkis-grüne Regierung bemerkenswert geschlossen auftritt und jeden Öffnungsschritt mit der klaren Warnung vor zu grosser Nonchalance verbindet.
Österreich ist damit zu einem Corona-Musterland geworden. Die Kehrseite ist die geringe Kundenfrequenz in den Läden und Shoppingcentern. Bis zu einer wirtschaftlichen Normalisierung ist es ein weiter Weg. Der Druck wird deshalb kaum nachlassen. Immerhin darf man dem Bundesrat attestieren, dass der weitere Öffnungs-Fahrplan ziemlich clever gestaltet ist.
Über den für 8. Juni geplanten nächsten Schritt will er am 27. Mai entscheiden. Bis dann wird man wissen, welche Auswirkungen das «Grand Opening» am Montag auf die Infektionskurve haben wird. Einen zusätzlichen Anreiz, sich diszipliniert zu verhalten, schafft der Bundesrat, indem er mit der Öffnung von Zoos und Bergbahnen zuwartet, die zu den beliebtesten Ausflugszielen gehören.
Vorerst begibt sich die Schweiz mehr oder weniger auf das Niveau von Schweden. Dort waren Grundschulen, Läden und Restaurants nie geschlossen. Am schwedischen Modell scheiden sich die Geister. Ist es vorbildlich oder verheerend? Die Sterberate ist deutlich höher als in den benachbarten skandinavischen Ländern, aber tiefer als in Grossbritannien oder Italien.
Die Schweden halten jedenfalls eisern an ihrem liberalen Modell fest, und zuletzt ist die Corona-Kurve gesunken. Und ein Aspekt dürfte ihre Bilanz stark getrübt haben: Zu lange wurde der Schutz der Senioren vernachlässigt. Erst am 31. März wurde ein Besuchsverbot in Altersheimen verhängt. Den mangelhaften Schutz der Risikogruppe räumen mittlerweile auch die Behörden ein.
Der schwedische Ansatz basiert auf einer hohen Eigenverantwortung. Andere Länder wie Grossbritannien und die USA, die traditionell zum Laissez-Faire tendieren, haben damit ein Desaster verursacht. Bei ihnen ist allenfalls ein schwaches Licht am Ende des Corona-Tunnels zu erkennen. Und die Schweiz ist vermutlich mehr USA als Schweden.
«Trotz der tiefen Fallzahlen müssen wir uns bewusst sein: Das ist noch lange nicht das Ende dieser Pandemie», meint die Epidemiologin Olivia Keiser im watson-Interview. Wir können die grosse Öffnung am Montag mit einer Portion Optimismus angehen. Und müssen unablässig auf die damit verbundenen Risiken hinweisen. Sonst stecken wir vielleicht bald wieder im Dreck.
Ist die Wirtschaft höher zu gewichten als ein Menschenleben? Oder sind die Exsistenzen von einigen Geschäften wichtiger, als ein paar "Korateralschäden"?
Ich denke, wir sind bis jetzt relativ glimpflich davon gekommen. Was die Zukunft bringt, werden wir sehen.
Danke für den differenzierten Artikel Herr Blunschi. Einziger Punkt den man gerne erwähnen kann: Niemand weiss wie genau die Todesrate ausgesehen hätte ohne Lockdown, denn sogar Schweden hatte letztendlich auch einen Lockdown light gemacht, aber sicher ist das es sich um ein vielfaches gehandelt hätte.
Und wer DJ Antoine mehr glaubt als einem Experten, der das Thema jahrelang studiert und untersucht hat... na dem ist eh nicht mehr zu helfen.