Kann das sein? Wird Donald Trump, der die Nation selbst in der Coronakrise lieber spaltet als vereint, tatsächlich wiedergewählt? Es ist zu früh für eine klare Aussage. Aber der bisherige Verlauf der US-Wahlnacht erinnert unangenehm an jene vor vier Jahren. Damals war ich in New York und zuversichtlich, dass Hillary Clinton erste US-Präsidentin wird.
Ich streifte damals durch Manhattan, und je später der Abend, umso grösser die Verblüffung. Ein Staat nach dem anderen fiel an Donald Trump, den Grosskotz und Frauengrapscher. Irgendwann nach 23 Uhr kippte es endgültig, als Fox News Trump zum Gewinner in Wisconsin erklärte, einem Staat, den die Demokraten nicht verlieren durften.
Nie werde ich die fassungslosen Gesichter auf dem Times Square vergessen. Die Menschen, die den New Yorker Trump herzhaft verabscheuten, verstanden die Welt nicht mehr. Und nun? Noch sind nicht alle Staaten ausgezählt, aber ein Déjà-vu stellt sich ein.
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Anfangs sah es gut aus für Joe Biden. Jetzt kann man mit Sicherheit sagen: Der von manchen Experten erwartete Erdrutschsieg für den Demokraten findet nicht statt. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, mit einem gefühlten Vorteil für Trump. Das kann sich ändern, es gibt positive Signale für Biden, aber eine zweite Amtszeit ist in Reichweite.
So hat Trump in Florida, wo er inzwischen seinen offiziellen Wohnsitz hat, gewonnen. Das ist keine Überraschung. Es war klar, dass er bei den kubanischstämmigen Wählerschaft stark abschneiden würde. Sie weiss es zu schätzen, dass der Präsident die Annäherung an das Castro-Regime unter Barack Obama beendet und die Schraube angezogen hat.
Unerwartet schwierig sieht es für Biden auch im Rust Belt aus. Hier muss er unbedingt gewinnen, vor allem in den Staaten Michigan, Pennsylvania und Wisconsin, die Trump vor vier Jahren ganz knapp für sich entscheiden konnte. Möglich ist es, sogar ein Erfolg in Ohio liegt immer noch drin. Aber es scheint auch dieses Jahr sehr eng zu werden.
Zwei interessante Erkenntnisse zeichnen sich in der Live-Berichterstattung der US-Medien ab: In den Suburbs scheint Joe Biden tatsächlich besser abzuschneiden als Hillary Clinton 2016. Dafür liegt er in ländlichen Regionen, bei einer weissen Wählerschaft mit geringer Schulbildung, teilweise hinter Clintons Ergebnissen zurück. Gerade hier hat man von Joe Biden einiges erwartet.
Tendenziell ist das aber gut für ihn, da die urbanen Regionen mehr Gewicht haben. Und ein Erfolg im bislang republikanisch dominierten Arizona wäre ein Booster. Aber die Auszählung könnte sich wie befürchtet hinziehen, vor allem in Pennsylvania. Dort wird offenbar nur ein geringer Teil der Briefstimmen heute noch ausgezählt.
Ein Rechtsstreit ist programmiert. Wird Pennsylvania das neue Florida 2000? Oder Ohio 2004? Ob er gewinnt oder nicht, Donald Trump hat es wieder allen gezeigt. Der Enthusiasmus seiner Fans war offenbar nicht nur ein eingebildeter Vorteil.