Jens* kam wegen der Liebe aus Deutschland in die Schweiz. Er lernte Marco* während seiner Arbeit als Flugbegleiter kennen und zog kurz darauf bei ihm ein. «Er war die grosse Liebe. Dass er mich schlagen würde, hätte ich ihm niemals zugetraut», erzählt Jens.
Es geschah nach einer durchzechten Nacht. Das Paar stritt sich auf dem Heimweg – der Alkohol peitschte die Emotionen hoch. «Marco schrie mich an und dann schubste er mich plötzlich, sodass ich gegen eine Hauswand prallte», berichtet Jens. Als er ebenfalls laut wurde und seinen Freund zurechtwies, rastete dieser aus. «Er schlug immer wieder mit der Faust auf mich ein». Aufgehört habe er erst, als Jens am Boden lag.
Die Datenlage zu häuslicher Gewalt in lesbischen und schwulen Partnerschaften ist dünn. Eine Studie der Universität Bristol lässt aber vermuten, dass es etwa gleich oft in homosexuellen Beziehungen zu häuslicher Gewalt kommt wie in heterosexuellen Beziehungen. Somit hat mehr als ein Drittel bereits Erfahrungen mit physischer und psychischer Gewalt durch den Partner gemacht.
Das Spektrum dieser Gewalt sei weitreichend, erklärt die Soziologin und Autorin Constance Ohms, die sich seit Jahren mit Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen auseinandersetzt: «Es reicht von körperlichen Übergriffen wie Schlagen, Treten, Beissen, an den Haaren zerren über psychische Gewalt wie Herabsetzungen, verbale Übergriffe wie Beleidigungen bis hin zu sexualisierter Gewalt, so beispielsweise den Partner zu sexuellen Praktiken zwingen oder aber sich nicht an vereinbarte Codewörter halten», so Ohms.
In lesbischen und schwulen Beziehungen komme es häufiger zu gegenseitiger Gewalt, zu sogenannten bidirektionalen Gewaltdynamiken. «Das heisst, dass über einen längeren Zeitraum betrachtet, beide Partner zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Formen von Gewalt ausüben», erklärt Ohms. Die Täter- und Opferrollen verschwimmen, was es Betroffenen noch schwerer macht, sich Hilfe zu holen.
Kommt es zu Gewalt in lesbischen Beziehungen, verschliesst die Öffentlichkeit die Augen fast gänzlich. Zum einen ist die Frau in der Rolle der Täterin kein gängiges Narrativ. Dazu kommt, dass gesellschaftliche Homophobie nach wie vor Realität ist und es lesbisch lebenden Frauen erschwert, sich Hilfe zu holen.
«Das Gewaltpotenzial von Frauen wird tendenziell unterschätzt, und ein Bewusstsein für weibliche Täterschaft ist kaum vorhanden», schreibt die Zürcher Beratungsstelle für Frauen (BIF) in ihrem Jahresbericht. Bilder der friedfertigen, umsorgenden, helfenden Frau seien gesellschaftlich nach wie vor stark verankert. Die lesbische Beziehung wird idealisiert: «Die meisten Menschen gehen davon aus, dass zwei Frauen in einer Liebesbeziehung gleichberechtigt sind und eine harmonische Beziehung leben, ohne dass Machtmissbräuche geschehen».
Die (BIF) hat deshalb bereits im Jahr 2012 eine Kampagne lanciert, die sich explizit an lesbische Frauen richtet. «Lesbische Frauen müssen wissen, dass sie mitgemeint sind und das Recht auf eine professionelle Opferberatung haben», sagt Bettina Dähler von der Beratungsstelle.
Die Kampagne wurde in der lesbischen Community begrüsst und zum grossen Teil positiv bewertet. Vereinzelt wurden aber auch kritische Fragen geäussert. «Das ist auch verständlich, da die Community ein Schutzraum darstellen soll und man Angst hatte, Vorurteile zu bedienen.» Dennoch sei es wichtig – auch im Namen der Gleichberechtigung – dass man sich und der Öffentlichkeit eingestehe, dass auch in lesbischen Beziehungen nicht immer nur alles heile Welt sei.
Dass die lesbische Community das Thema teilweise tabuisiert, hänge damit zusammen, dass sie nach wie vor diskriminiert würden, erklärt Ohms. Eine zentrale Strategie der Community gegen Diskriminierung sei eben das Streben nach Normalität: «Die Öffnung der Ehe für alle, das Recht auf Adoptivkinder oder die Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Elternschaft stellt ja nicht die gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundsätzen in Frage, sondern ist ein Streben nach Teilhabe an Normalität. Auf dem Weg zur Normalität wird es als hinderlich angesehen, Probleme, die es auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen gibt, offenzulegen», so Ohms.
Die Lebensrealität von homosexuellen Menschen ist noch immer eine andere. Erst seit 1992 klassifiziert die WHO Homosexualität nicht mehr als psychische Krankheit. So wundert es nicht, dass nach wie vor viele gleichgeschlechtliche Paare ihre Beziehung nicht offen leben. «Die lesbische Lebensform ist nicht der Normalfall. Egal wie offen wir zu sein glauben: Die betroffene Person kann trotzdem nie wissen, wie das Gegenüber reagiert», sagt Dähler. Dies sei mit ein Grund, warum sich lesbische Frauen keine Hilfe holen.
Dazu kommt, dass das Umfeld suggeriert, dass lesbische Frauen ihre sexuelle Orientierung durch doppelte Angepasstheit kompensieren müssen. «Nach dem Motto: Wenn schon anders, dann bitte glücklich», erklärt Dähler das Phänomen. «Viele Menschen erwarten, dass homosexuelle Menschen dann bitte schön angepasst zu leben haben. Und sicher nicht noch häusliche Gewalt erleben.»
Weiter gebe es einen einfachen Grund, dass Homosexuelle keine Hilfe in Anspruch nehmen: «Für Lesben kann es sich als schwierig erweisen und für Schwule nahezu unmöglich sein, vorhandene Interventionsstrukturen zu nutzen, da diese heteronormativ ausgerichtet sind, das heisst, dass sich zwar Angebote für Opfer häuslicher Gewalt vor allem an Frauen richten, die von Männern misshandelt werden und dementsprechend Angebote für Männer sich an gewaltausübende Männer richten», erklärt Ohms. Frauenhäuser seien ungeachtet ihrer öffentlichen Bekundungen oft nicht zugänglich für Lesben, geschweige denn für Transfrauen.
Seit der Nacht, in der Marco auf Jens losging, sind einige Monate vergangen. Jens verliess Marco nicht gleich. «Zuerst dachte ich: So ist das halt, wir sind ja Jungs! Bis ich begriff, dass Marco eine Grenze überschritt, schlug mich Marco noch drei Mal – einmal brach er mir die Nase», so Jens.
*Namen geändert.