Es waren Bilder, die entweder Freude oder Kopfschütteln auslösten. Grossbritannien startete am Montag an diversen Orten mit ausgiebigen Partys in den «Freedom Day», den Tag, an dem praktisch alle Corona-Massnahmen aufgehoben wurden.
Es gab aufgrund der hohen täglichen Neuinfektionen mit der Delta-Variante und dem gleichzeitig langsamen Anstieg der Hospitalisationen auch kritische Stimmen. Wohin führt die Reise?
Es lohnt sich ein Blick nach Kalifornien, wo der «Freedom Day» schon am 15. Juni statt fand. Seither galten, wie in einigen weiteren Bundesstaaten, praktisch keine Massnahmen gegen das Coronavirus mehr. Zudem ist die Impfquote mit 61 Prozent vollständig Geimpften und weiteren knapp 10 Prozent einmalig Geimpften ähnlich hoch wie in Grossbritannien.
Kalifornien war in den USA einer der Staaten, welche bei den Öffnungsschritten lange vorsichtig agierten, und weist eine der höchsten Impfquoten aus. Der Öffnungsplan sah am 15. Juni die Aufhebung praktisch aller Massnahmen vor: Keine Maskenpflicht mehr, keine Abstände, Bars, Restaurants, Läden, Sportanlässe – alles wieder zugänglich.
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Die Fallzahlen hatten im Juni ein sehr tiefes Niveau erreicht. Bei rund 40 Millionen Einwohnern verzeichnete man im 7-Tagesschnitt rund 900 Fälle:
Während den ersten Tagen veränderte sich kaum etwas. Allerdings ist bekannt, dass Auswirkungen erst nach etwa zwei Wochen zu erkennen sind. Am 29. Juni wurden 1030 Neuinfektionen gemeldet – seither steigt die Kurve. Am 19. Juli waren es in Kalifornien 4027, so viele wie zuletzt im Februar.
Ihren Beitrag leistet dazu auch die Delta-Variante, welche mittlerweile in Kalifornien rund 75 Prozent aller Ansteckungen ausmacht. Mitte Juni war die hochansteckende Variante nur bei jedem dritten Fall nachgewiesen. Zu Erinnerung: In Grossbritannien ist Delta schon am «Freedom Day» praktisch zu 100 Prozent für alle Neuinfektionen verantwortlich. Da hatte Kalifornien also nach der Öffnung noch ruhigere Tage.
Würde Kalifornien weiterhin das vierstufige Modell für die Einschätzung der Corona-Situation verwenden, das vor dem 15. Juni gültig war, wären aktuell mindestens ein Dutzend der total 58 Countys in der höchsten Gefahrenstufe und müssten Massnahmen verschärfen.
Aktuell sagt Gouverneur Gavin Newsom: «Wir können die Pandemie innert Wochen oder Monaten beenden. Wenn sie das wollen: Lassen sie sich impfen.» Weitere neue Massnahmen ankünden will er nicht. Der Demokrat steht vor den Wahlen im September.
Allerdings kann er diese Absicht vielleicht nicht beibehalten. So reagierten einige Countys bereits auf die rasant steigenden Neuinfektionen. Beispielsweise in Los Angeles gilt seit Samstag wieder Maskenpflicht in Innenräumen. Dazu gehören neben Einkaufsläden auch Büros und Restaurants, sofern nicht gerade gegessen wird.
Neben dem bevölkerungsreichsten County haben bis am Montag auch Sacramento, Fresno, Yolo, Napa, Santa Cruz, San Benito und Monterey die Maskenpflicht wieder eingeführt. In vielen anderen Countys im Golden State wird das Tragen der Maske auch für Geimpfte wieder empfohlen. Für rund die Hälfte aller Einwohner Kaliforniens gilt damit wieder Maskenpflicht. Dr. John Schwartzberg, Professor für Infektionskrankheiten und Vakzinologie in Berkeley erklärte: «Verglichen mit vor einem Monat sind wir in keiner guten Position.»
Im County Los Angeles sorgten die neuen Massnahmen bei den rund zehn Millionen Einwohnern für ein breites Spektrum an Emotionen, wie die «New York Times» berichtet. Einige akzeptieren die neuen Regeln, andere können die neusten Einschränkungen nicht nachvollziehen. Allerdings ist sowieso offen, wie sehr sich die Bevölkerung an die neuen Regeln halten wird. So fragt die «Los Angeles Times»: «Wird irgendjemand die neuen Indoor-Maskenregeln durchsetzen?»
Momentan machen auch in Los Angeles die Neuinfektionen nur einen Bruchteil jener zum Höhepunkt der zweiten Welle im Winter aus. Allerdings sind sie vom 15. Juni bis am 18. Juli von 150 Fällen auf 1400 gestiegen. Im Vergleich mit den gesamten USA ist Kalifornien mehr oder weniger im Gleichschritt, etwas höher als in der Schweiz, aber noch deutlich tiefer als in Grossbritannien.
Dass die Neuinfektionen nur einen Teil der Entwicklung zeigen, ist längst klar. Darum lohnt sich ein Blick auf die Hospitalisationen. Hier stiegen die Neueinweisungen im selben Zeitraum von 219 auf 544. Obwohl sich die Zahl praktisch verdoppelte bleibt anzumerken: Im Vergleich zum Niveau im Winter sind diese Zahlen weiterhin tief.
Auf Ebene des Staates zeigt sich ein ähnliches Bild. Anfangs Juni steckten sich zwei von 100'000 Einwohnern an, aktuell sind es deren 7, beim Peak im Januar 109. Hospitalisationen und Todesfälle bleiben in Kalifornien (noch) auf tiefem Niveau. Wie in den gesamten USA zeigten die Hospitalisationen zuletzt nach oben. Bei den wöchentlichen Spitaleinweisungen pro Million Einwohner liegen die USA und Grossbritannien aktuell auf ähnlichem Niveau mit knapp 60 – obwohl Grossbritannien deutlich mehr Fälle aufweist.
Das kalifornische Gesundheitsministerium (CDPH) erklärte am Freitag trotzdem: «So wie sich die Verbreitung der aggressiven Delta-Variante entwickelt, können wir nicht oft genug betonen, wie wichtig es für alle berechtigten Personen ist, sich impfen zu lassen.»
Motivierend könnte diese Auswertung des CDPH sein: Auf Staatenebene stecken sich momentan 1,1 pro 100'000 Geimpfte Personen neu mit dem Covid-Virus an. Bei den Ungeimpften sind dies 6,2 pro 100'000.
Doch zurück zur Frage, wohin der Weg Grossbritanniens gehen könnte. Auf der Insel lag der 7-Tagesschnitt pro Million Einwohner am 19. Juli bei 677 Neuinfektionen. In Kalifornien waren es am 15. Juni deren 22.
Grossbritannien startet sein Experiment also von einem deutlich höheren Niveau als Kalifornien und mit der Delta-Verbreitung schon bei praktisch 100 Prozent. In Kalifornien war sie am Öffnungstag bei rund 30 Prozent. Im Südwesten der USA dauerte es vier Wochen bis die Massnahmen wieder verschärft wurden.
Btw. den Titel finde ich etwas gas reisserisch - wird dem nüchternen Artikel nicht gerecht.
Sollten die nicht-geimpften dir Spitäler zum überlasten bringen, braucht es andere Massnahmen als Einschränkungen für Geimpfte.