Der Spanier Alain* schreit und schlägt um sich, als er im Frühjahr 2018 in die Isolationszelle einer Westschweizer Haftanstalt gesteckt wird. Er ist in Panik. Das Personal ruft den Gefängnisarzt. Doch als dieser mit Alain sprechen will, verweigert der Spanier das Gespräch. Er sei nicht krankenversichert und könne sich keine Konsultation leisten. «Da blieb er also ohne die medizinische und psychologische Hilfe, die er dringend benötigt hätte, in seiner Zelle», kritisiert Bruno Gravier, Präsident der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte.
Beim geschilderten Fall handelt es sich nicht um eine Ausnahme. Experten schätzen, dass hierzulande rund 2000 Häftlinge nicht krankenversichert sind. Bei den Betroffenen handelt es sich vorwiegend um ausländische Straftäter ohne Wohnsitz in der Schweiz, sogenannte «Kriminaltouristen». Aufgrund ihres Status' fallen sie nicht unter das Krankenkassenobligatorium. Werden sie im Gefängnis krank, haben sie je nach Kanton nur Anrecht auf Nothilfe oder müssen jegliche Behandlungskosten selbst übernehmen. Somit haben sie nur begrenzt Zugang zur nötiger Pflege. Denn oft will keine Behörde für ihre Behandlungen zahlen und sie selbst können dafür nicht die nötigen finanziellen Mittel aufbringen.
Die Problematik wird nun auf dem politischen Parkett diskutiert. Die Grünen-Nationalrätin Lisa Mazzone hat eine entsprechende Interpellation eingereicht. Darin fragt sie: «Ist der Bundesrat bereit (...), in sämtlichen Kantonen inhaftierten Personen, die nicht krankenversichert sind, den Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten?»
Eine berechtigte Frage, findet Gefängnisarzt Bruno Gravier. Der jetzige Zustand mit lediglich der Nothilfe sei «inhuman – und gänzlich inakzeptabel»: «Das verletzt klar fundamentale Prinzipien, welche die Schweiz anerkennt, die im Ärzte-Kodex stehen und die international gelten.» So unter anderem die Mandela-Rules der UNO, sagt Gravier. Laut diesen sollen alle Insassen – egal welchen Status sie haben – Anrecht auf dieselbe medizinische Betreuung wie die Staatsangehörigen des Landes haben, in dem sie inhaftiert sind.
Wichtig sei dies auch aus epidemiologischer Sicht, so der Arzt: «Diese Personen müssen auch präventive Massnahmen wie beispielsweise zur Hepatitis-Vorbeugung oder HIV-Screeningtests aus der eigenen Tasche zahlen – und lassen diese deshalb oft nicht machen.» Das sei bedenklich: «Gefängnisinsassen gehören zur Risikogruppe. Irgendwann werden diese Menschen aus der Haft entlassen und könnten zum Krankheitsüberträger werden.»
Arztrechnungen zulasten von Insassen ohne Krankenversicherung würden in gewissen Kantonen mehrere Tausend Franken erreichen, so der Arzt. Dies sei bei Austritt aus dem Gefängnis ausserdem eine Hürde für die Resozialisierung, ergänzt er.
Sein Lösungsansatz ist simpel: Die Versicherungspflicht sollte auf Häftlinge ohne Aufenthaltsbewilligung ausgeweitet werden. «Hier müsste die gleiche Regelung gelten wie bei Asylsuchenden», so Gravier. Asylsuchende und Schutzbedürftige ohne Aufenthaltsbewilligung müssen in der Schweiz gegen Krankheit versichert sein. Allerdings können die Kantone die Wahl der Krankenkasse sowie der Ärzte und Spitäler einschränken.
Bei der Organisation für Strafgefangene und Ausgegrenzte «Reform 91» ist die Problematik bekannt. Präsident Peter Zimmermann: «Salopp gesagt ist es eine grosse Sauerei, dass so etwas in der Schweiz möglich ist.» Die Betroffenen würden sich oft nicht an die entsprechenden Stellen wenden um sich Hilfe zu suchen: «Auch weil sie dazu sprachlich nicht in der Lage sind.»
Umstritten sind auch die derzeit herrschenden kantonalen Unterschiede. Denn während die Behörden gewisser Kantone die anfallenden Kosten teils übernehmen, behandeln andere Kantone Kostengutsprachen wesentlich restriktiver wie der Bund berichtete. In weiteren Kantonen werden Behandlungskosten direkt vom Lohn der Insassen abgezogen. Nationalrätin Lisa Mazzone plädiert deshalb für eine schweizweite Lösung: «Das würde viel mehr Sinn machen und wäre weniger willkürlich als zig verschiedene kantonale Beurteilungen.» Ausserdem sei es am Bund zu gewährleisten, dass die Menschenrechte in der Schweiz respektiert werden.
Der Bundesrat sieht das anders. In seiner Stellungnahme vom 16. Mai anerkennt er die Problematik, stellt aber die Verantwortung des Bundes in Frage: «Es liegt nicht in der Kompetenz des Bundes, Standards zur Gesundheitsversorgung in Haft festzulegen.» Vielmehr falle dies in den Kompetenzbereich der Kantone. Die Problematik wird gegenwärtig im Rahmen einer Arbeitsgruppe durch Experten des Bundes und der Kantone näher analysiert. Wann mit den Ergebnissen gerechnet werden kann, ist nicht bekannt.
Bereits 2016 machte ein von der Tagesschau veröffentlichter Fall aus der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies Schlagzeilen. Ein Arzt diagnostizierte bei einem Häftling ohne Krankenkassendeckung einen drohenden Harnverhalt und plädierte für einen dringenden Eingriff. Gleichwohl wollte niemand die anfallenden Kosten übernehmen – auch der Kanton nicht.
*Name geändert.