Herr Amir, wie haben Sie die letzten
Tage und Wochen erlebt?
ASHTI AMIR: Ich bin in Afrin geboren und
aufgewachsen. Ich habe so viele Erinnerungen an den Ort, an meine
Freunde, an meine Familie. Afrin war eine wunderschöne Provinz, die
jetzt durch die Bombardierungen und Bodenkämpfe zerstört wurde. Zu
sehen, mit welch roher Brutalität die Stadt angegriffen wird, hat
mich tief getroffen. Die Bilder von plündernden Islamisten sind demütigend und lassen mich
zum Teil nicht mehr los. Ich habe einige schlaflose Nächte hinter mir.
Ihre Eltern leben noch immer in
Afrin?
Meine Eltern und meine Schwiegereltern.
Meine Frau stammt aus der zweitgrössten Stadt in der Provinz Afrin. Meine Eltern
sind über 70 Jahre alt, meine Mutter krank. Sie wollten wie viele
andere Afrin zuerst nicht verlassen. Doch als die Bombardierungen
begannen, blieb ihnen nichts anderes übrig.
Wohin gingen sie?
Zuerst flüchteten sie ins Zentrum der
Stadt. Dort waren sie eine Zeit lang eingeschlossen und konnten nicht
weg.
Warum waren sie eingeschlossen?
Die YPG (Anm. d. Red.: die syrische
Kurdenmiliz) hat sie nicht mehr rausgelassen.
Wieso nicht?
Darüber gibt es zwei Meinungen. Einige
sagten, die YPG habe die Leute eingekesselt, damit sie diese als
menschliche Schutzschilder benutzen können. Die YPG selber sagte,
die Stadt und die gesamte Umgebung sei voller Bomben und Minen und es gefährlich wäre, wenn
nun alle durcheinander nach draussen strömen würden.
Welche Aussage stimmt?
Ich würde nicht bestreiten wollen,
dass die YPG mit den eingekesselten Zivilisten ein strategisches Ziel
verfolgt hat. Nämlich, dass die Weltpolitik endlich sieht, dass die
Türkei ein Kriegsverbrechen begeht. Tatsächlich ist es so, dass die
internationale Gemeinschaft während Wochen einfach weggeschaut
hat. Niemand hat die Türkei vor diesem Irrsinn gestoppt.
Andererseits stimmt auch die Aussage der YPG, dass die Stadt voller
Minen war. Mein Cousin wollte mit seiner Frau aus Afrin rausfahren. Ihr Auto ist explodiert und beide sind gestorben.
Was passierte danach mit Ihren
Eltern?
Die türkische Armee begann, das Zentrum
zu bombardieren. Sogar das Spital wurde getroffen. In den türkischen
Medien wurde das geleugnet, sie haben Bilder von einem intakten Haus
gezeigt, bei welchem es sich jedoch nicht um das Spitalgebäude
handelt. Ich kenne das Haus und ich kenne den Chef des Spitals
persönlich. Auf jeden Fall öffnete die YPG schliesslich einen
Korridor, damit die Zivilisten, darunter auch meine Eltern, aus der
Stadt flüchten konnten.
Wo sind sie jetzt?
Das weiss ich nicht. Ein Bekannter hat
mir gesagt, er habe gesehen, wie meine Eltern mit dieser Gruppe durch
den Korridor flüchtete. Ich hatte seither keinen Kontakt mehr mit
ihnen. Die Antennen wurden allesamt zerstört, telefonieren ist
schwierig. Ich vermute aber, dass sie mit allen anderen, auch mit meinen
Schwiegereltern an einem sicheren Ort zwischen Afrin und Aleppo sind.
Das Gebiet dort ist teilweise von russischen, syrisch-demokratischen
und von Assad-treuen Kräften besetzt.
Wie sieht vor Ort die humanitäre
Situation für die Flüchtlinge aus?
Schlecht. Es fehlt an allem. Es gibt
keine Unterkünfte, nicht einmal Zelte. Es gibt keine
Nahrungsmittelprogramme und hat keine internationale Organisationen
vor Ort. Diese wissen nicht, wie sie dorthin kommen oder haben Angst,
angegriffen zu werden. Von einem Konvoi des Internationalen
Komitees vom Roten Kreuz kamen nur
ein paar Lastwagen an, weil die Strecke, auf der sie sich befanden, bombardiert wurde. Es gibt viele Leute, die in ihre Häuser
zurückkehren wollen. Meinen Informationen nach wird sich morgen ein Konvoi von Menschen auf den Weg zurück nach Afrin aufmachen. Doch viele haben Angst.
Warum haben sie Angst?
Weil sie nicht wissen, wie die
türkischen Besatzer sie behandeln werden. Unter ihnen gibt es viele
islamistische Gruppen, die nun in Afrin reinmarschiert sind und in
der Stadt wüten und zerstören. Sie räumen alles Kurdische weg und
gehen dabei äusserst brutal vor. Man spürt einen grossen Hass. Auch
weil es teilweise dieselben Leute sind, die schon in Rakka gegen die
Kurden gekämpft haben. Damals gelang es der YPG diese
dschihadistischen Milizen zu vertreiben. In der Türkei haben sie
sich neu organisiert und üben nun Rache an den Kurden in Afrin.
Erdogan hat gesagt, er wolle Afrin
von den der terroristischen YPG befreien. Jetzt flüchten die Leute
vor ihren vermeintlichen Befreiern.
Afrin ist eine bekannte säkulare,
offene, moderate Stadt. Jetzt kommen Islamisten, welche die Bewohner
bekehren wollen. Das kommt nicht gut an. Eines der ersten Dörfer,
das die türkische Armee gemeinsam mit den islamistischen Milizen
erobert hat, befand sich in jesidischem Gebiet. Diese Leute
praktizieren ihre eigene Religion. Anhänger des türkischen Militärs haben die
Jesiden gefangen genommen und sie gefragt, warum sie so seltsam
beten.
Gibt es Leute, die froh sind, dass
die YPG vertrieben wurde?
Ich glaube, selbst jene Leute, die nicht
auf derselben Linie mit der YPG und der PYD (Anm. d. Red.: Syrische
Kurdenpartei) stehen, finden das türkische Militär die schlimmere
Option. Natürlich gab es in Afrin immer wieder Kritik an der PYD und
deren Führung. Doch die Mehrheit scharte sich hinter sie.
Wann waren Sie zuletzt in Afrin?
2015. Ich traf auf eine friedliche
Stadt mit einem mehr oder weniger normalen Alltag, trotz des
syrischen Bürgerkriegs. Es gab Schulen, feste Verwaltungsstrukturen,
eine gute gesundheitliche Versorgung. Ich war mit meinem Verein
«SyriAid» dort, weil wir drei medizinische Zentren eröffnet haben.
Der Bezirk Afrin war einer von drei
selbstverwalteten Einheiten im Kurdengebiet Rojava. Wie funktionierte
die Verwaltung?
Die Kontrolle lag in der Hand der
Partei PYD. Man hat schon gemerkt, dass sie die alleinige Macht hat
und es noch nicht wirklich eine demokratische Führung gibt. Aber
angesichts dessen, dass im Land Krieg herrscht, sehr viele
Flüchtlinge in Afrin lebten, und alles immer im Ausnahmezustand war,
funktionierte die Verwaltung einigermassen gut. Ich kenne die meisten Politiker vor
Ort und habe ihnen gegenüber auch meine Kritik geäussert. Sie haben
mir gesagt, dass die basisdemokratische Selbstverwaltung noch in
Aufbau ist. Derzeit gehe es mehr darum, einen einigermassen ruhigen
Alltag zu gewährleisten.
Und war dieser Wille einer
Demokratisierung tatsächlich zu spüren?
Ja, zum Beispiel bezüglich den Rechten
für Frauen. Die Regierungschefin war eine Frau, Hevi
Mustafa. Auch im Alltag war zu spüren, dass die Rolle der Frauen
wichtiger war, wie in anderen Städten, die ich besuchte. In Idlib,
das rund zwei Autostunden von Afrin entfernt liegt, sind in der
Öffentlichkeit und in der Politik praktisch nur Männer präsent.
Diesen Unterschied bemerkt man sofort. Afrin hat in den
letzten Jahren sehr viele Flüchtlinge aufgenommen.
Wie gut hat das
funktioniert?
Als ich das letzte Mal dort war, habe
ich ein Flüchtlingslager besucht. Das Camp war in einem guten
Zustand. Es gab genügend Lebensmittel, Kleidung, Betten. Die
Flüchtlinge waren zufrieden. Natürlich auch, weil sie sich sicher
fühlten und sich nicht mehr vor den Bomben fürchten mussten.
Bezeichnend war für mich auch, dass diese Flüchtlinge überhaupt
nach Afrin geflohen sind und nicht in die Arme von Assad. Auch damals
in Rakka. Sie flohen vor dem «IS» und gingen zu den Kurden nach Kobane.
Auch wenn sie von anderer Ethnie sind, wissen sie, dass sie dort gut
behandelt werden.
Was passiert nun mit der Stadt?
Es gibt diese Pläne, Afrin einer
Arabisierung zu unterziehen. 1962 wurde das schon einmal gemacht.
Entlang der türkischen Grenze wurde in einem 400 Kilometer langen und 15 Kilometer breiten Gürtel Araber angesiedelt, mit dem Ziel, die Kurden zu vertreiben.
Teilweise haben solche Umsiedlungen schon stattgefunden. Es gibt
Bilder, die das beweisen. Ich finde das äusserst gefährlich.
Warum?
Stellen Sie sich vor, Sie werden aus
Ihrem Haus in Zürich vertrieben und wenn sie zurück kommen, wohnt
dort eine Familie aus dem Wallis.
Sie wissen also nicht, was mit Ihrem
Haus passiert?
Ich habe keine Ahnung ob unser Haus
überhaupt noch steht und falls es steht, wer jetzt da drin wohnt.
Wie schaffen Sie es, angesichts
dieser Lage nicht den Verstand zu verlieren?
Ich weiss es nicht. Das würde nichts
bringen. Ich bin einfach unendlich enttäuscht, dass man unser Volk
immer wieder im Stich lässt. In den 50er-Jahren wurde das kurdische
Gebiet in vier Teile gespalten. Seither leiden die Kurden. Die
kurdische Peschmerga hat den «IS» aus Mossul im Irak vertrieben. Die
YPG hat den «IS» aus Kobane und Rakka vertrieben. Da war die
Weltgemeinschaft zufrieden mit uns. Doch wenn es um unsere Rechte
geht, zieht sich der Westen zurück. Das ist schmerzhaft und für
mich unverständlich.
Wie erklären Sie den Krieg Ihren Kindern?
Meine Kinder sind in der zweiten,
vierten und sechsten Klasse. Ich versuche zu vermeiden, dass sie vor
den Fernseher kommen, wenn wir Nachrichten schauen. Doch sie stellen
Fragen und wollen wissen, was mit den Grosseltern passiert. Ich
bleibe mit meinen Antworten an der Oberfläche. Aber sie spüren,
dass meine Frau und ich nervös sind. Vor allem meine älteste
Tochter bekommt viel mit. Dieser Krieg beschäftigt uns alle sehr.