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Interview

Der Exilsyrer Ashti Amir erzählt von seiner Heimat Afrin

Ashti Amir in seinem Wohnzimmer: «Ich habe schlaflose Nächte hinter mir.» 
Ashti Amir in seinem Wohnzimmer: «Ich habe schlaflose Nächte hinter mir.» bild: mario heller
Interview

«Niemand hat die Türkei vor diesem Irrsinn in Afrin gestoppt»

Ashti Amir, gebürtiger Syrer aus Afrin, lebt seit bald 20 Jahren in der Schweiz. Im Interview erzählt er, wie seine Eltern vor dem türkischen Militär flüchten mussten und warum er nachts nicht schlafen kann. 
22.03.2018, 19:0423.03.2018, 12:43
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Herr Amir, wie haben Sie die letzten Tage und Wochen erlebt?
ASHTI AMIR: Ich bin in Afrin geboren und aufgewachsen. Ich habe so viele Erinnerungen an den Ort, an meine Freunde, an meine Familie. Afrin war eine wunderschöne Provinz, die jetzt durch die Bombardierungen und Bodenkämpfe zerstört wurde. Zu sehen, mit welch roher Brutalität die Stadt angegriffen wird, hat mich tief getroffen. Die Bilder von plündernden Islamisten sind demütigend und lassen mich zum Teil nicht mehr los. Ich habe einige schlaflose Nächte hinter mir.

Ihre Eltern leben noch immer in Afrin?
Meine Eltern und meine Schwiegereltern. Meine Frau stammt aus der zweitgrössten Stadt in der Provinz Afrin. Meine Eltern sind über 70 Jahre alt, meine Mutter krank. Sie wollten wie viele andere Afrin zuerst nicht verlassen. Doch als die Bombardierungen begannen, blieb ihnen nichts anderes übrig.

zur Person
Ashti Amir, 52 Jahre alt, gelangte vor 18 Jahren als politischer Flüchtling in die Schweiz. Heute besitzt er eine C-Bewilligung, ist mit einer Syrerin verheiratet und lebt mit seinen drei Kindern in Bern. Amir arbeitet in einem Bieler Durchgangszentrum und ist zudem Mitinitiator des Vereins «Syriaid», der humanitäre Hilfe in Syrien leistet. Aufgrund seines grossen Netzwerks gilt Amir als wichtige Stimme der syrischen Diaspora in der Schweiz. 

Wohin gingen sie?
Zuerst flüchteten sie ins Zentrum der Stadt. Dort waren sie eine Zeit lang eingeschlossen und konnten nicht weg.

Warum waren sie eingeschlossen?
Die YPG (Anm. d. Red.: die syrische Kurdenmiliz) hat sie nicht mehr rausgelassen.

Wieso nicht?
Darüber gibt es zwei Meinungen. Einige sagten, die YPG habe die Leute eingekesselt, damit sie diese als menschliche Schutzschilder benutzen können. Die YPG selber sagte, die Stadt und die gesamte Umgebung sei voller Bomben und Minen und es gefährlich wäre, wenn nun alle durcheinander nach draussen strömen würden.

Welche Aussage stimmt?
Ich würde nicht bestreiten wollen, dass die YPG mit den eingekesselten Zivilisten ein strategisches Ziel verfolgt hat. Nämlich, dass die Weltpolitik endlich sieht, dass die Türkei ein Kriegsverbrechen begeht. Tatsächlich ist es so, dass die internationale Gemeinschaft während Wochen einfach weggeschaut hat. Niemand hat die Türkei vor diesem Irrsinn gestoppt. Andererseits stimmt auch die Aussage der YPG, dass die Stadt voller Minen war. Mein Cousin wollte mit seiner Frau aus Afrin rausfahren. Ihr Auto ist explodiert und beide sind gestorben.

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Islamistische Gruppierungen feiern die Eroberung Afrins.Bild: EPA/EPA

Was passierte danach mit Ihren Eltern?
Die türkische Armee begann, das Zentrum zu bombardieren. Sogar das Spital wurde getroffen. In den türkischen Medien wurde das geleugnet, sie haben Bilder von einem intakten Haus gezeigt, bei welchem es sich jedoch nicht um das Spitalgebäude handelt. Ich kenne das Haus und ich kenne den Chef des Spitals persönlich. Auf jeden Fall öffnete die YPG schliesslich einen Korridor, damit die Zivilisten, darunter auch meine Eltern, aus der Stadt flüchten konnten.

«Es gibt viele Leute, die in ihre Häuser zurückkehren wollen. Doch viele haben Angst.»

Wo sind sie jetzt?
Das weiss ich nicht. Ein Bekannter hat mir gesagt, er habe gesehen, wie meine Eltern mit dieser Gruppe durch den Korridor flüchtete. Ich hatte seither keinen Kontakt mehr mit ihnen. Die Antennen wurden allesamt zerstört, telefonieren ist schwierig. Ich vermute aber, dass sie mit allen anderen, auch mit meinen Schwiegereltern an einem sicheren Ort zwischen Afrin und Aleppo sind. Das Gebiet dort ist teilweise von russischen, syrisch-demokratischen und von Assad-treuen Kräften besetzt.

Wie sieht vor Ort die humanitäre Situation für die Flüchtlinge aus?
Schlecht. Es fehlt an allem. Es gibt keine Unterkünfte, nicht einmal Zelte. Es gibt keine Nahrungsmittelprogramme und hat keine internationale Organisationen vor Ort. Diese wissen nicht, wie sie dorthin kommen oder haben Angst, angegriffen zu werden. Von einem Konvoi des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz kamen nur ein paar Lastwagen an, weil die Strecke, auf der sie sich befanden, bombardiert wurde. Es gibt viele Leute, die in ihre Häuser zurückkehren wollen. Meinen Informationen nach wird sich morgen ein Konvoi von Menschen auf den Weg zurück nach Afrin aufmachen. Doch viele haben Angst.

Warum haben sie Angst?
Weil sie nicht wissen, wie die türkischen Besatzer sie behandeln werden. Unter ihnen gibt es viele islamistische Gruppen, die nun in Afrin reinmarschiert sind und in der Stadt wüten und zerstören. Sie räumen alles Kurdische weg und gehen dabei äusserst brutal vor. Man spürt einen grossen Hass. Auch weil es teilweise dieselben Leute sind, die schon in Rakka gegen die Kurden gekämpft haben. Damals gelang es der YPG diese dschihadistischen Milizen zu vertreiben. In der Türkei haben sie sich neu organisiert und üben nun Rache an den Kurden in Afrin.

epa06601096 Internally displaced people from various areas under YPG control, arrive to the recently captured by the Free Syrian Army village of Qestel Cindo, Afrin, 13 March 2018. The Turkish army on ...
Flüchtlinge aus Afrin bringen sich in Sicherheit.Bild: EPA/EPA

Erdogan hat gesagt, er wolle Afrin von den der terroristischen YPG befreien. Jetzt flüchten die Leute vor ihren vermeintlichen Befreiern.
Afrin ist eine bekannte säkulare, offene, moderate Stadt. Jetzt kommen Islamisten, welche die Bewohner bekehren wollen. Das kommt nicht gut an. Eines der ersten Dörfer, das die türkische Armee gemeinsam mit den islamistischen Milizen erobert hat, befand sich in jesidischem Gebiet. Diese Leute praktizieren ihre eigene Religion. Anhänger des türkischen Militärs haben die Jesiden gefangen genommen und sie gefragt, warum sie so seltsam beten.

Gibt es Leute, die froh sind, dass die YPG vertrieben wurde?
Ich glaube, selbst jene Leute, die nicht auf derselben Linie mit der YPG und der PYD (Anm. d. Red.: Syrische Kurdenpartei) stehen, finden das türkische Militär die schlimmere Option. Natürlich gab es in Afrin immer wieder Kritik an der PYD und deren Führung. Doch die Mehrheit scharte sich hinter sie.

Wann waren Sie zuletzt in Afrin?
2015. Ich traf auf eine friedliche Stadt mit einem mehr oder weniger normalen Alltag, trotz des syrischen Bürgerkriegs. Es gab Schulen, feste Verwaltungsstrukturen, eine gute gesundheitliche Versorgung. Ich war mit meinem Verein «SyriAid» dort, weil wir drei medizinische Zentren eröffnet haben.

«Bezeichnend war für mich auch, dass diese Flüchtlinge überhaupt nach Afrin geflohen sind und nicht in die Arme von Assad.»

Der Bezirk Afrin war einer von drei selbstverwalteten Einheiten im Kurdengebiet Rojava. Wie funktionierte die Verwaltung?
Die Kontrolle lag in der Hand der Partei PYD. Man hat schon gemerkt, dass sie die alleinige Macht hat und es noch nicht wirklich eine demokratische Führung gibt. Aber angesichts dessen, dass im Land Krieg herrscht, sehr viele Flüchtlinge in Afrin lebten, und alles immer im Ausnahmezustand war, funktionierte die Verwaltung einigermassen gut. Ich kenne die meisten Politiker vor Ort und habe ihnen gegenüber auch meine Kritik geäussert. Sie haben mir gesagt, dass die basisdemokratische Selbstverwaltung noch in Aufbau ist. Derzeit gehe es mehr darum, einen einigermassen ruhigen Alltag zu gewährleisten.

Und war dieser Wille einer Demokratisierung tatsächlich zu spüren?
Ja, zum Beispiel bezüglich den Rechten für Frauen. Die Regierungschefin war eine Frau, Hevi Mustafa. Auch im Alltag war zu spüren, dass die Rolle der Frauen wichtiger war, wie in anderen Städten, die ich besuchte. In Idlib, das rund zwei Autostunden von Afrin entfernt liegt, sind in der Öffentlichkeit und in der Politik praktisch nur Männer präsent. Diesen Unterschied bemerkt man sofort. Afrin hat in den letzten Jahren sehr viele Flüchtlinge aufgenommen.

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Eine Machtdemonstration: Das türkische Militär besetzt das Stadtzentrum von Afrin.Bild: EPA/EPA

Wie gut hat das funktioniert?
Als ich das letzte Mal dort war, habe ich ein Flüchtlingslager besucht. Das Camp war in einem guten Zustand. Es gab genügend Lebensmittel, Kleidung, Betten. Die Flüchtlinge waren zufrieden. Natürlich auch, weil sie sich sicher fühlten und sich nicht mehr vor den Bomben fürchten mussten. Bezeichnend war für mich auch, dass diese Flüchtlinge überhaupt nach Afrin geflohen sind und nicht in die Arme von Assad. Auch damals in Rakka. Sie flohen vor dem «IS» und gingen zu den Kurden nach Kobane. Auch wenn sie von anderer Ethnie sind, wissen sie, dass sie dort gut behandelt werden.

Was passiert nun mit der Stadt?
Es gibt diese Pläne, Afrin einer Arabisierung zu unterziehen. 1962 wurde das schon einmal gemacht. Entlang der türkischen Grenze wurde in einem 400 Kilometer langen und 15 Kilometer breiten Gürtel Araber angesiedelt, mit dem Ziel, die Kurden zu vertreiben. Teilweise haben solche Umsiedlungen schon stattgefunden. Es gibt Bilder, die das beweisen. Ich finde das äusserst gefährlich.

Warum?
Stellen Sie sich vor, Sie werden aus Ihrem Haus in Zürich vertrieben und wenn sie zurück kommen, wohnt dort eine Familie aus dem Wallis.

Sie wissen also nicht, was mit Ihrem Haus passiert?
Ich habe keine Ahnung ob unser Haus überhaupt noch steht und falls es steht, wer jetzt da drin wohnt.

«Stellen Sie sich vor, Sie werden aus Ihrem Haus in Zürich vertrieben und wenn sie zurück kommen, wohnt dort eine Familie aus dem Wallis.»

Wie schaffen Sie es, angesichts dieser Lage nicht den Verstand zu verlieren?
Ich weiss es nicht. Das würde nichts bringen. Ich bin einfach unendlich enttäuscht, dass man unser Volk immer wieder im Stich lässt. In den 50er-Jahren wurde das kurdische Gebiet in vier Teile gespalten. Seither leiden die Kurden. Die kurdische Peschmerga hat den «IS» aus Mossul im Irak vertrieben. Die YPG hat den «IS» aus Kobane und Rakka vertrieben. Da war die Weltgemeinschaft zufrieden mit uns. Doch wenn es um unsere Rechte geht, zieht sich der Westen zurück. Das ist schmerzhaft und für mich unverständlich.

Wie erklären Sie den Krieg Ihren Kindern?
Meine Kinder sind in der zweiten, vierten und sechsten Klasse. Ich versuche zu vermeiden, dass sie vor den Fernseher kommen, wenn wir Nachrichten schauen. Doch sie stellen Fragen und wollen wissen, was mit den Grosseltern passiert. Ich bleibe mit meinen Antworten an der Oberfläche. Aber sie spüren, dass meine Frau und ich nervös sind. Vor allem meine älteste Tochter bekommt viel mit. Dieser Krieg beschäftigt uns alle sehr.

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22 Kommentare
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Hesperos
22.03.2018 19:42registriert Dezember 2017
Es tut mir richtig weh das zu lesen. Ich hoffe, dass ihre Eltern in Sicherheit sind. Es ist schlimm wie immer wieder Menschen unter diesem Machthaber leiden müssen. Vom Westen bin ich auch enttäuscht ich wünschte mir wesentlich mehr Rückgrat von unseren Politikern.

Danke watson, dass ihr diesen Menschen eine Stimme gebt, ist echt traurig, wie wenig von anderen Medien darüber berichtet wird.
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Harry Zimm
22.03.2018 21:06registriert Juli 2016
Würde jemand behaupten, der Ankaraner Despot und seine Komparsenbagage gehöre für die von ihnen geplanten und geförderten Kriegsverbrechen vor den internationalen Strafgerichtshof, käme man als humanes Wesen kaum umhin, dem zuzustimmen.
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Andi Amo
22.03.2018 20:21registriert April 2015
«Stellen Sie sich vor, Sie werden aus Ihrem Haus in Zürich vertrieben und wenn sie zurück kommen, wohnt dort eine Familie aus dem Wallis.»

Ich finde den Vergleich für das was dort gerade geschieht viel zu harmlos. Es müsste doch eher sein;
Stellen Sie sich vor, Sie werden aus Ihrem Haus in Zürich vertrieben und wenn sie zurück kommen, wohnt dort eine Familie aus einem völlig anderen Kulturkreis und mit einer Sprache, die Sie nicht einmal verstehen.»

Ok moment mal....doch, eigentlich passt das Beispiel mit den Wallisern doch ganz gut...
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