Statt einer Discokugel hängt ein Viertel Galloway-Rind von der Decke. In jenem Saal, wo in einer Zeit vor unserer Zeit Sonntag für Sonntag «Giacobbo/Müller» aufgezeichnet wurde. Im Kokspalast also. Zwei Metzger sägen und säbeln am Rind herum. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, etwas in mir erwacht, es will seine Zähne ... Wäre ich selbst ein Tier, ich würde andere Tiere jagen. Und die Frage drängt sich auf: «Kann ich das roh essen?»
«Sicher, das ist wundervoll abgehangenes Fleisch», sagt Sandra Knecht, die dafür gesorgt hat, dass dieses spezielle Rind aus dem basellandschaftlichen Ormalingen jetzt im Kaufleuten verkocht wird. Von Sandra selbst auf einem riesigen Grill, den sie von Basel mit nach Zürich gebracht hat, nach Hause quasi, denn vor ein paar Jahren gehörte der Grill noch dem Kaufleuten.
Die andern anwesenden Köche sind alle von Betty Bossi und arbeiten mit Sous-vide. Okay, ist Sous-vide nicht für Pussys? Also die noch pussigere Variante von Niedergaren? Zwei Methoden, die eine Fleischzubereitung ohne Geruchsbelästigung, Rauch und Fettspritzer garantieren. Und die deshalb in der Schweiz besonders beliebt sind.
Wir befinden uns an einer enorm spektakulären Verkaufsveranstaltung von Betty Bossi für Sous-vide-Geräte, an der versucht wird, den Zürchern klar zu machen, dass die in Plastik eingeschweissten Fleischstücke, die im Wasserbad vor sich hin simmern, tatsächlich in einem grösseren Zusammenhang von Tier und Tod stehen. Drei Viertel des Galloway-Rinds sind in Plastik verpackt, das Discokugel-Viertel kommt auf den Grill.
Aber wie gehen Sandra Knecht, die lange Videokunst machte, bevor sich immer mehr Essen in ihre Kunst schlich und sie allmählich zur Kochkünstlerin wurde, und Betty Bossi überhaupt zusammen? Also der «Ruech» und das Synonym für die bieder-patente Hausfrau? Der Kern von Knechts Arbeit heisst seit vielen Jahren «Heimat». Und die fiktive Schweizer Köchin Betty Bossi, die 1956 geboren wurde, um der Schweizerin zeitsparende, aber leckere Gerichte für jeden Tag beizubringen, ist gerade so viel Heimat wie ein Rind aus Ormalingen. Als Kind hatte Sandra Knecht Jahr für Jahr ein Betty-Boss-Kochbuch unterm Weihnachtsbaum. Die Früherziehung zur perfekten Schweizer Hausfrau.
Sandra Knecht lebt in einem Dorf zwischen dem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und dem Dorf meines Grossvaters. Mein Verhältnis zu Fleisch war noch nie sentimental. Ich hab als Kind viel Zeit auf dem Bauernhof verbracht und viel für die Tiere gearbeitet, die irgendwann auf unseren Tellern endeten. Oder für die Obstbäume meines Grossvaters, die uns den Keller, die Tiefkühltruhe und die Einmachgläser füllten.
Ich war nie ein Fan vom Landleben, aber bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir die unvermeidlichen und kreatürlichen Kreisläufe nahe brachten. Dass ich wusste, aus welchem Kuheuter die Milch kam, die ich in der Käserei kaufen ging.
Aber wie finden es die beiden Metzger, die im Kaufleuten am Rind schnäfeln? Doof? Dekadent? Gar nicht, sagen sie, so funktioniert das, es ist wichtig, dass das alle mal gesehen haben. Und es sei wichtig, sich sorgfältig mit dem einzelnen Tier auseinander zu setzen und nicht Tag für Tag 3000 Schweine in einer Industriemetzgerei auseinander zu nehmen. Der eine von beiden hat diese Station hinter sich. Jetzt ist er in einer Dorfmetzg, unweit von Sandra Knecht. Manchmal schaut sie bei ihnen vorbei, mit einer verrückten Idee, ein paar Gewürzen, und die Metzger versuchen, aus dieser Idee zum Beispiel eine Wurst zu machen.
Eine davon, eine Blutwurst mit Herbstgewürznote, liegt jetzt gerade auf dem Grill. Denn 12 Liter Blut hat das Galloway-Rind gelassen. Sie schmeckt hinreissend, die Wurst, ebenso die sous-vide-gegarte Zunge. Und dass ein zweieinhalb Stunden lang bei 57 Grad gegartes Hohrückensteak ein saftig-zarter Traum ist, muss man eigentlich nicht erwähnen. Zum Dessert gibts Schoggipudding Sous-vide ... Oh grundgütiger Gott der Gaumenfreuden, ist das gut! Betty Bossi, heirate mich!
Gefühlte 700 Zürcher drängen sich inzwischen um Metzger, Grill und Sous-vide-Demonstrationen. Vielleicht auch 7000. Es sieht aus, als würde gleich eine sehr, sehr schwarze Messe beginnen. Tier und Tod. Und etwas in mir fletscht schon wieder die Zähne.