Das Bild vom auf dem Sofa liegenden Milan hat sich seit meiner Kindheit in mein Hirn gebrannt. Meist hatte er einen Zahnstocher im rechten Mundwinkel. Im linken eine Zigarette. Er trug stets Shorts, ein weisses oder hellblaues Feinripp-Unterliibli und Adiletten.
Vor ihm auf dem Stubentisch die Fernbedienung. Und Bier. Onkel Milan erfüllt vieles, was meine Schweizer Freunde unter einem Vorzeige-Jugo verstehen. Milan raucht trotz Raucherbein Kette. «Die Ärzte dramatisieren», sagt er.
Auch schmatzt Milan. Und schlürft, wenn er Suppe isst. Zum Zvieri gönnt er sich öfters eine rohe Zwiebel. Beim Spanferkel findet er den Kopf das Beste. Milan ist der besserwisserische grosse Bruder meines genervten Vaters.
Eigentlich sind alle von Milan genervt. «Nur der Hund schätzt mich», sagte er letztens zu meiner Mutter über seinen Schäferhund Petar. Obwohl ihn meine Mom in seiner Aussage bestätigte, haben die beiden eine Art Draht zueinander. Das will was heissen. Milan mag nämlich niemanden. Ausser eben, meine Mutter, Petar und lustigerweise mich.
Ich vermute, dass ich einen Nesthäkchen-Bonus habe. Schliesslich wuchs ich Tür an Tür mit Onkel Milan auf. Und die Tür zu ihm und seinem Sofa stand immer offen. Ich liebte es, bei ihm und meiner Tante zu sein. Und bei meinen Cousins, seinen Kindern.
So fest Milan bezüglich seines Aussehens und seines Tuns alles erfüllt, was man über Jugos sagt, so unjugo ist der Gute in seiner Art. Milan sagt nämlich ungefiltert, was er denkt.
Über die typische Jugo-Kultur, in der man unangenehme Themen unter den Teppich kehrt, sehr schnell beleidigt ist und wo wichtig ist, was der Nachbar von einem hält, sagt Milan: «Boli me Kurac!» Was wortwörtlich «Der Schwanz tut mir weh!» heisst, in der Umgangssprache aber für «Mir egal!» steht.
Ich erinnere mich an einen Sommer in Serbien. Ein Cou-Cousin meines Vaters und von Milan hatte seine Hütte fertig gebaut und lud zur grossen Einweihung ein. Spanferkel, Live-Musik und BMW in der Einfahrt inklusive. Während alle die pinke Fassade und den goldigen Zaun lobten, lachte Milan ob so viel «geschmacklosem Protztum». Heldenhaft!
Das letzte Mal habe ich Milan letzten Sonntag gesehen, als ich zu Besuch bei meinen Eltern war. Immer, wenn ich da bin, gehe ich vor allem wegen Milan zu ihm und meiner Tante Elvira rüber. Ich klopfe also an und trete ein.
Wie immer pöbelt mich Milan an, weil ich schon wieder ohne Mann da bin. «Was läuft falsch mit dir», will er wissen. «Oder hast du einen Freund?». Habe ich nicht. «Eine Freundin?» Meine Tante schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Milan verzieht keine Miene. Dass die Homosexualität auf dem Balkan (leider) immer noch ein Tabuthema ist, ist Milan, logisch, scheissegal.
Während er versucht zu analysieren, warum ich immer noch ledig und kinderlos bin – «Es muss dein emanzipierten Getue und deine stets unmöglichen Schuhe und Kleider sein» –, zünde ich ihn wegen des Rauchens, des Verzehrs von rohen Zwiebeln und des stets wachsenden Bierbauchs an.
Jetzt hält Milan inne. Er habe den perfekten Mann. Stojan. Stojan ist der Sohn von Milans Nachbarn in Serbien. Stojan ist 42. Und wohnt noch daheim. Eine abgeschlossene Ausbildung hat er nicht. Auch war er mal kurz im Knast. Vor Jahren. Nichts Grosses, betont Milan. Stojan sei witzig. Biz schräg. Vielleicht auch etwas abnormal. «Wie du, Ludmila.»
Ich lehne dankend ab.
Zwei Stunden später logge ich mich auf Facebook ein. Ich habe eine neue Freundschaftsanfrage straight outta Serbia.
Danke, Onkel Milan. Wirklich. Merci viel mal. Natürlich werde ich dir spätestens morgen verziehen haben. Bis dahin aber: Jebi se hiljadu puta! (Fick dich 1000 Mal!).
Ich darf das sagen. Ich darf Milan alles sagen. Nesthäkchen-Bonus for life!
Eure Ludmila