Hiobsbotschaft für die katholische Kirche der Schweiz: Die Austritte sind 2019 erneut in eine Rekordhöhe geschnellt. 31'722 Gläubige verliessen im vergangenen Jahr die grösste Religionsgemeinschaft. Im Vorjahr waren es 25'366.
Die Zunahme wuchs in einem Jahr um rund einen Viertel an. Dies war schon 2018 so, denn 2017 lag die Zahl der Austritte noch bei 19'893. Die Zahlen stammen vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) in St.Gallen.
Die exponentielle Austrittswelle trifft die katholische Kirche schwer und verspricht nichts Gutes für die Zukunft. Sie verliert zunehmend an Rückhalt in der Gesellschaft, was mit einem Imageverlust verbunden ist. Zwar sind 32'000 jährliche Austritte bei rund drei Millionen Gläubigen noch kein Unglück, doch die Tendenz ist für die Kirche alarmierend.
Setzt sich der Trend fort, dürften sich die Kirchenbänke weiter leeren. Denn die meisten Katholiken sind aus religiöser Sicht «Karteileichen», die sich nicht mehr aktiv am kirchlichen Leben beteiligen, sondern nur noch die Rituale konsumieren: Hochzeiten, pompöse Gottesdienste an Ostern und Weihnachten, Taufen, Erstkommunion und Firmung ihrer Kinder und schliesslich eine kirchliche Beerdigung.
Viele wagen den Austritt auch nicht, weil sie die Kirche als Rückversicherung brauchen. Frei nach dem Motto: Falls an den christlichen Heilsvorstellungen und Erlösungskonzepte doch etwas dran sein sollte, möchte man das Ticket in den Himmel nicht verscherzen.
Für die katholischen Geistlichen dürfte es besonders besorgniserregend sein, dass immer mehr ältere Gläubige den Austritt vollziehen. Der Prozentsatz der 51- bis 65-Jährigen, die der Kirche den Rücken kehren, wächst kontinuierlich.
Dies bedeutet, dass vermehrt Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen austreten. Somit sinkt auch für ihre Kinder die Schwelle, den Schritt ebenfalls zu tun. Es ist also voraussehbar, dass die Zahl der Austritte weiter jährlich ansteigt.
Sollte der Trend anhalten, könnte sich die Zahl der Katholiken in der Schweiz in etwa 30 Jahren halbieren. Die katholischen Geistlichen werden einwenden, dass sich die Austritte in Zukunft nicht zwingend exponentiell entwickeln werden.
In erster Linie seien die Skandale, Krisen und negativen Schlagzeilen Treiber der Austritte, so das Pastoralsoziologische Institut. Projektleiter Urs Winter-Pfändler schreibt im Bericht zu den Austritten, es gehe inzwischen nicht nur um die Missbräuche von Kindern und Jugendlichen durch Kirchenleute, sondern auch von Ordensfrauen.
Er erwähnte auch, dass Kirchenaustritte in der breiten Bevölkerung an sozialer Akzeptanz gewinnen würden. Er kann sich vorstellen, dass sie vielleicht bald einmal als normal empfunden werden.
Vielleicht vollzieht sich der Exodus aber noch schneller als die statistischen Rechnereien ergeben. Berücksichtigt man zusätzlich die weiter fortschreitende Individualisierung und Säkularisierung, kann es für die katholische Kirche noch Schlimmer kommen.
Was geschieht mit den Zehntausenden, die jährlich aus der katholischen und reformierten Kirche austreten? Die wenigsten von ihnen konvertieren zum Agnostizismus oder Atheismus, denn die Summe der religiösen Bedürfnisse nimmt nur langsam ab.
Parallel zum Trend nach Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung basteln sich viele ihre privaten religiösen und spirituellen Ideen. Die meisten freunden sich mit der Idee der Wiedergeburt an, wie Untersuchungen zeigen. Von da ist der Weg zu fernöstlichen und esoterischen Heilsvorstellungen nicht mehr weit.
Viel dazu trägt auch der weltweite Siegeszug von Meditation und Yoga bei. Manche geraten bei ihrer Suche nach der übersinnlichen Erlösung in die Fänge von spirituellen Meistern und Gurus. Und ehe sie sich versehen, landen sie in einer Sekte. Dass am Anfang dieser religiösen Odyssee vielleicht ein Skandal innerhalb der katholischen Kirche stand, ist wohl eine Ironie der Geschichte.