Bei Vorträgen und Interviews werde ich immer mal wieder gefragt, ob es überhaupt gute Sekten gibt. Die Frage macht zuerst einmal klar, dass der Begriff einen negativen Beigeschmack hat. Die meisten Leute denken intuitiv an Vereinnahmung, Abhängigkeit, Gehirnwäsche und an einen radikalen Glauben.
Doch Sekten sind keine uniformen Glaubensgemeinschaften oder spirituelle Organisationen. Die Sektenlandschaft ist ein bunter Flickenteppich. In der Schweiz gibt es schätzungsweise 1000 problematische Gruppen, die sektenhafte Aspekte aufweisen.
Einen beträchtlichen Teil machen Freikirchen aus, die in allen grösseren Gemeinden aktiv sind. Zahlenmässig am stärksten ins Gewicht fallen aber kleine Gruppen, die sich um einen esoterischen Meister, spirituellen Lehrer, Geistheiler, selbsternannten Propheten, Anbieter aus dem alternativmedizinischen Spektrum oder ein übersinnliches Medium scharen.
So entstehen laufend neue Gruppen, die aber oft wieder verschwinden und durch andere ersetzt werden. Erfolg haben meist nur jene Möchtegern-Gurus, die mit einem guten Mundwerk gesegnet sind und vollmundig überzogene spirituelle und religiöse Versprechen machen. Und mit den Mitteln von Sehnsucht und Angst die Leute anlocken und an sich binden können.
Wer dies schafft, gewinnt einen Kundenkreis, der das Einkommen sichert. Denn die Konkurrenz ist gross, gibt es doch Tausende Anbieter auf dem esoterischen, spirituellen und religiösen Markt.
Doch was zeichnet heute eine Sekte aus? Diese Frage wäre Stoff für Bücher. Deshalb hier nur eine Kurzversion. Früher und per Definition waren Sekten Abspaltungen von traditionellen Glaubensgemeinschaften. Damals wurde der Begriff wertneutral empfunden. So spalteten sich beispielsweise Freikirchen von der protestantisch-evangelischen Kirche ab.
Schon im 19. Jahrhundert gab es aber esoterische Gruppen, die sektenhafte Züge aufwiesen. Das russische Medium Helena Petrovna Blavatsky reiste damals nach Südostasien und liess sich von den fernöstlichen spirituellen Ideen inspirieren. 1875 gründete sie die Theosophische Gesellschaft, die Urmutter der westlichen Esoterik. Ihr Weggefährte war Rudolf Steiner, der später die Anthroposophie ins Leben rief.
Der Begriff Sekte bekam im 20. Jahrhundert eine neue, abwertende Bedeutung. Nun wurden der Glaube, die Strukturen und der Umgang mit den Anhängern und Gläubigen kritisch bewertet.
Ins Rampenlicht gerieten vor allem die Anführer, Verkünder oder Gurus der Gemeinschaften, die als absolute Autoritäten auftraten und eine eigene Heilslehre predigten. Dabei wurde vermehrt das sektenhafte Verhalten aus psychologischer Warte angeprangert.
Gleichzeitig realisierten Kritiker, dass nicht nur in religiösen Gemeinschaften sektiererische Phänomene wie Vereinnahmung und Indoktrination beobachtet werden konnten, sondern auch in radikalen weltanschaulichen und politischen Bewegungen. Somit erhielt der Begriff Sekte eine neue Bedeutung.
Doch zurück zur Frage, ob es gute Sekten gibt.
Grundsätzlich ist zu erwähnen, dass sektenhafte Gruppen Angebote machen, die viele Leute neugierig werden lassen und manche sogar faszinieren. Die Sektenführer versprechen das übersinnliche Heil, das Engagement in einer auserwählten Gruppe, einen umfassenden Lebenssinn, eine goldene Zukunft sowohl im Diesseits wie im Jenseits und Geborgenheit in einer eingeschworenen Gemeinschaft.
Die Versprechen sind zwar irrational und unerfüllbar, doch sie klingen verlockend auf suchende Menschen. Sie vermitteln eine neue Lebensperspektive und führen zusammen mit dem Lovebombing der Gruppe zu euphorischen Glücksgefühlen.
Diese werden zwar von Hirngespinsten erzeugt, doch die Emotionen fragen nicht nach dem Wahrheitsgehalt der glücksbringenden Umstände. Sektennovizen erleben es als Zustand des Verliebtseins, der verspricht, ewig anzudauern. Eigentlich ein Sechser im Lotto des Lebens.
Doch die Krux liegt im Kleingeschriebenen, das ausserdem gut versteckt ist. Denn die Einbindung in eine Sekte hat einen Preis, einen sehr hohen sogar. Das Heil ist an harte Bedingungen geknüpft.
Da ist einmal die Selbstaufgabe. Die Mitglieder oder Anhänger müssen alles, was in der Sektenwelt gilt, bedingungslos übernehmen. Oft nicht nur im religiösen oder ideologischen Bereich, sondern auch im säkularen. Allein schon Fragen sind verpönt, geschweige denn kritische Einwände.
Es gilt das Motto: «Alles oder nichts». Der Scientology-Gründer Ron Hubbard formulierte es so: «Niemand kann zur Hälfte innerhalb und zur Hälfte ausserhalb von Scientology sein.»
Verlangt wird eine Uniformität im Handeln, Denken, Fühlen und Glauben. Respekt und Zuneigung sind an Wohlverhalten und Konformität gebunden. Alles dient angeblich einem höheren Zweck, auch die Liebe.
Dies führt meist zu einer Entfremdung von der angestammten Welt, sowohl im sozialen wie geistigen und spirituellen Bereich. Im Extremfall kann dies eine Entmenschlichung bewirken.
Denn wer sich so stark unterordnet, verliert den Bezug zu seinem inneren Ich. Er lässt sich manipulieren und wird zu einem willfährigen Werkzeug der Führungskräfte. Die Werteverschiebung führt meist zu einer Bewusstseinsveränderung, einem Realitätsverlust und einer unheilvollen Radikalisierung oder Fanatisierung.
Im Extremfall sind die Sektenanhänger bereit, für ihren Sektenführer zu morden oder zu sterben, wie die kollektiven Sektendramen oder die Terroranschläge der Islamisten zeigen.
Selbstverständlich sind die wenigsten Sekten so radikal. Es gibt unter den rund 1000 Gruppen in der Schweiz eine grosse Bandbreite, was das Gefahrenpotential betrifft. Doch im Kern tragen alle Gruppen das Manipulations- und Indoktrinations-Gen in sich.
Unter dem Strich rauben alle Sekten ihren Anhängern einen Teil ihrer geistigen Autonomie, Identität, Selbstbestimmung und Freiheit. Die negativen Auswirkungen überwiegen deshalb bei weitem.
Deshalb gilt: Es gibt keine guten Sekten.