Anthroposophen geniessen in der Regel einen guten Ruf. Viele Leute schwören auf die alternativen Produkte des Konzerns Weleda, der vor allem Naturkosmetik herstellt. Auf der Anthroposophie gründen auch die naturnahen landwirtschaftlichen Demeterprodukte, die Therapien der anthroposophischen Ärzte und Spitäler und die Rudolf Steiner Schulen, in denen sich die Schüler ohne Notendruck entwickeln können.
All diese Produkte und Institutionen gehen auf den Hardcore-Esoteriker Rudolf Steiner (1861-1925) zurück, den Begründer der Anthroposophie. Der Herr Dr. Steiner, wie ihn die Anthroposophen ehrfürchtig nennen, hat einen Parallelkosmos entwickelt und an Tausenden von Vorträgen und in unzähligen Schriften die geistige, medizinische, pädagogische, spirituelle und übersinnliche Welt neu vermessen. Das zentrale Merkmal seiner Geheimlehre: In fast allen Bereichen schwingt ein okkulter Groove mit.
Kein Wunder, war doch Steiner Mitbegründer der umstrittenen Theosophie, die Urmatrix der modernen Esoterik. Doch bald war er mit seinen extremen Ideen selbst den Theosophen zu radikal, weshalb Steiner seine eigene Lehre gründete, die Anthroposophie eben.
Über die jüngsten Schlagzeilen würde sich Steiner, der sich auch als Hellseher betrachtete, nicht freuen. Sie betreffen Steiner-Schulen, die zu Coronazeiten immer mal wieder geschlossen werden müssen, weil viele Anthroposophen Impfgegner sind und zu den Coronaskeptikern und -leugnern gehören. Und auch zu den Wortführern der Massnahmengegner, die lautstark bei den Demonstrationen auftreten.
Aktuell musste vergangene Woche die Zürcher Steiner-Schule geschlossen werden, weil sich ein beträchtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler infiziert hatte.
Für radikale Anthroposophen sind Impfungen des Teufels, weil sie die natürliche Entwicklung der Kinder negativ beeinflussten. Dabei stützen sie sich auf die Lehren Steiners ab – wie bei allem im Leben. Deshalb veranstalten sie zuweilen auch Masernpartys für Kinder.
Denn Krankheiten haben für Steiner eine höhere Bedeutung und einen tieferen Sinn, weshalb sie nicht unterdrückt werden sollten. (Dass Masern für Kinder eine traumatische Krankheit und im Extremfall tödlich sein können, klammern die Eltern in ihrer spirituellen Verblendung gern aus.)
Diese okkulte Sichtweise übertragen viele Anthroposophen auf Covid-19. Infektionen enthielten wie vieles im Leben Botschaften aus der geistigen Welt, die wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung sein können, entnehmen sie den Aussagen von Steiner. Die Unterdrückung von Krankheiten könnten deshalb den karmischen Prozess stören, glauben sie.
Dieses Dogma leiten sie von der Wiedergeburtslehre Steiners ab. Krankheiten können quasi Sünden aus früheren Leben neutralisieren. Anthroposophen würden davon ausgehen, dass Kinder ein gewisses Mass an Fieber benötigten, um sich quasi in ihrem neuen Körper richtig einrichten zu können, erklärt der Autor Dietrich Krauss im Buch «Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde».
Und wörtlich fügt er an: «Da gäbe es richtige Listen, wo gesagt würde, wer im vorigen Leben zu selten musiziert habe, leide jetzt unter Asthma, wer zu wenig Interesse an Sternen gehabt habe, der bekomme Bindegewebsschwäche – solche absurden Zusammenhänge würden dort gestiftet.»
Es überrascht deshalb nicht, dass Nele Auschra, Sprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen in einer Pressemeldung schreibt: «Kinder und Jugendliche werden durch fortgesetzte Schul- und Kindergartenschliessungen schwerer geschädigt als durch COVID 19.» (Waldorfschulen sind das deutsche Pendent zu den Steiner-Schulen.)
Die deutsche «taz» listete ein paar Aktionen von Anthroposophen auf:
Anthroposophen engagieren sich auch in der Schweizer Protestbewegung. Im Sommer 2020 initiierten anthroposophische Ärzte die Gruppe «Aletheia», die im Chor der Massnahmengegner eine aktive Stimme hat. Auf der Homepage heisst es: «Bis heute deuten keine fundierten Daten darauf hin, dass in den letzten 19 Monaten wirklich eine ‹Pandemie› grassierte.»
Wie radikal sich die Aletheia-Ärzte gebärden, lässt sich an einer Massnahme der Video-Plattform YouTube ableiten. Aletheia zeichnete ihre Online-Medienkonferenz vom 12. November auf und veröffentlichte das Video bei YouTube. Die Plattform sah sich genötigt, den Beitrag unverzüglich zu löschen. Die Aletheia-Ärzte sprachen von Zensur. Was nicht wirklich überrascht.
Wenn Anthroposophen ihr Denken, Handeln und Fühlen von der kruden Heilslehre Rudolf Steiners ableiten, bewegen sie sich auf sektenhaftem Terrain. Mit fatalen Folgen für die Gesellschaft.