Momentan knistert es tüchtig im Gebälk der reformierten Kirche. Überliess sie in den letzten Jahren die unrühmlichen Schlagzeilen primär der katholischen Kirche, zieht nun sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich.
0Im Zentrum des medialen Erdbebens steht der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, Gottfried Locher. Er will den Dachverband der kantonalen Kirchen in eine gesamtschweizerische Kirche (Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS) umwandeln. Am Sonntag sollen die 70 Delegierten in Schaffhausen die neue Struktur umsetzen und ihn als Präsidenten wählen.
Doch auf der Zielgeraden gerät Locher in Straucheln. An seiner Person scheiden sich plötzlich die Geister. Er gilt als Mann mit Charisma, aber auch mit einem ausgeprägten Ego, der viel Gefallen an der Macht hat.
Er liebt die grosse Geste und beneidet offensichtlich die katholische Kirche, weil diese mit dem Papst eine Identifikationsfigur hat. So zieht er sich gern für seine Exerzitien ins Kloster Einsiedeln zurück.
Locher war bis vor wenigen Tagen der einzige Kandidat. Alles schien angerichtet für ihn. Doch nun gibt es Opposition wegen seines Frauen- respektive Männerbildes. Im Buch «Gottfried Locher, der ‹reformierte ‹Bischof›» machte er die bemerkenswerte Aussage: «befriedigte Männer sind friedlichere Männer.» Deshalb machten Prostituierte einen guten Job: «Darum sage ich, wir sollten den Prostituierten dankbar sein. Sie tragen auf ihre Art etwas zum Frieden bei.»
Als die Medien Locher in die Zange nahmen, tauchte er ab. Die «Rundschau» zeichnete in einem Beitrag ein wenig schmeichelhaftes Bild vom Mann Gottes. (siehe auch das Interview mit Josef Hochstrasser). Er verweigerte ihr ein Interview. Man fragte sich: Was hat er zu verstecken?
Auch gegenüber anderen Medien schickte er seinen Anwalt vor. Nun fordert ihn die Zürcher Pfarrerin Rita Famos heraus, es kommt also zu einer Wahl.
Als sich der Pulverdampf etwas verzogen hatte, ohne dass neue Anschuldigungen aufgetaucht waren, stellte sich Locher dann doch den Medien.
Und hier komme ich auf den springenden Punkt in diesem Text: Locher gab dem «Tages-Anzeiger» ein Interview und stellte alles als eine Kampagne gegen ihn dar. Dabei machte er eine besondere Aussage, die ich zur Diskussion stellen möchte.
Er sagte, im Mittelpunkt der Kirche stehe die Besinnung auf das Evangelium. Dabei gibt er zu, dass dies für aufgeklärte Menschen eine Provokation sei. Bei diesem Kern der Kirche gebe es keine Abstriche, sagte er. Dann wörtlich: «Und dazu gehören Dinge, die mit der Vernunft nicht erfassbar sind. Zum Beispiel die Auferstehung. Zum Beispiel das ewige Leben. Und ganz sicher: Gott.»
Es ist verdienstvoll, dass Locher in religiösen Fragen Klartext spricht. Doch war er sich bewusst, was seine Aussage bedeutet?
Der Begriff der Vernunft umfasst laut Wikipedia das Vermögen menschlichen Denkens, aus den im Verstand durch Beobachtung und Erfahrung erfassten Sachverhalten allgemein gültige Zusammenhänge der Wirklichkeit erschließen zu können. Durch Schlussfolgerungen sollen Regeln und Prinzipien aufgestellt und danach gehandelt werden. Es geht also auch um Verstand und kritisches Denken.
Das sieht dann in unserem Alltag so aus: Wir müssen uns von morgens bis abends vernünftig verhalten. Wer seine Bedürfnisse und Wünsche nicht mit der Vernunft zügelt, gefährdet sich und andere. Er fährt besoffen durch die Gegend, rast mit 100 Stundenkilometern durch Ortschaften und wird womöglich Alkoholiker.
Er nimmt auf niemanden Rücksicht und wird bei Konflikten schnell handgreiflich. Und er will seine Sexualität ungehindert ausleben, notfalls auch mit Einsatz von Gewalt.
Wir müssen also mit unserer Vernunft die Triebe zügeln, die Gier in den Griff bekommen, das Machtstreben und viele andere Bedürfnisse im Zaun halten. Ohne Vernunft wäre ein Zusammenleben unmöglich, die sozialen Strukturen würden zerfallen, Konflikte offen ausbrechen. Auch Verfassungen und Menschenrechte basieren auf der Einsicht, dass Vernunft das Fundament aller Gemeinschaften sein muss.
Kurz: Ohne vernünftiges Verhalten würde die Welt bald im Chaos versinken und die Menschheit wohl aussterben.
Doch ausgerechnet wenn es um die entscheidenden letzten Fragen im Leben geht, müssen wir die Vernunft ausschalten oder an den Nagel hängen, wie Kirchenpräsident Gottfried Locher zugibt.
Das führt zur Frage: Wie kann man von Menschen verlangen, ihre Leben nach Vernunftsprinzipien zu gestalten, ihnen aber gleichzeitig weismachen, in Glaubensfragen die Vernunft auszuschalten?
Das ist unvernünftig.
Und es geht nur, wenn man das Übersinnliche vom Sinnlichen abspaltet. Wenn man das Eine als Feind des anderen erklärt. Wenn man seine Identität in zwei Teile trennt.
Dass dies aus psychologischer Sicht nicht gut gehen kann, versteht sich von selbst. Wenn ich in einem Bereich die überlebenswichtige Vernunft ausschalten muss, führt dies zu einer Verunsicherung, denn beim Religiösen fehlt dann jede Kontrollinstanz.
Möglichkeiten und Gefahren der suggestiven Manipulation sind deshalb gross, es kommt zu Abhängigkeiten, wie wir bei Sekten erkennen. Und man wundert sich nicht, dass Religionen und religiöse Gemeinschaften oft konfliktträchtig sind.