Die gesellschaftliche Relevanz des Vorgangs lässt sich schlicht daran ablesen, wie viele Politiker, Journalisten, Ökonomen und Prominente auf der Welt reagiert haben. Die Übernahme der Social-Media-Plattform Twitter durch Elon Musk für 44 Milliarden Dollar ist zumindest in der digitalen Welt das grösste Politikum dieses Jahres. Von Glückwünschen bis zu Verwünschungen ist alles dabei.
Zu den euphorischen Gratulanten zählen Putins Gefolgsmann Dmitri Medwedew oder der bei Twitter gesperrte Ex-US-Präsident Donald Trump. Auch Spitzenpolitiker der AfD halten Musks Kauf für richtig. Kritiker hingegen sehen dadurch die Stabilität der Demokratien in Gefahr. Darunter ist die demokratische Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi. Auch die deutsche Bundesregierung will ihre weitere Präsenz auf Twitter nun von Entwicklungen unter dem neuen Twitter-Besitzer Elon Musk abhängig machen.
Ja, dem reichsten Mann der Welt gehört nun eines der mächtigsten Medien der Welt. Doch damit ist er nicht der einzige Milliardär, der eine mediale Plattform besitzt. Dem Amazon-Gründer Jeff Bezos gehört etwa die einflussreiche amerikanische Zeitung «Washington Post». Mark Zuckerberg gehören Facebook, Instagram und WhatsApp.
Twitter ist ein Mitmachmedium der Macht. Nachrichten verbreiten sich dort schneller als auf jeder anderen Plattform und noch wichtiger: Es entstehen politische Spins. In Echtzeit werden dort die Meinungen von Morgen gemacht.
Twitter ist mehr als nur ein Medium. Twitter ist ein viele Millionen Nutzer starkes Machtinstrument. Und Elon Musk hat mehr Einfluss als ein normaler Mensch. Er ist ein milliardenschwerer Machtmensch, der vorgibt, eine politische Agenda zu verfolgen. Eine Agenda, die zu einem besseren, aber auch nicht näher definierten gesellschaftlichen Zustand führen soll.
«Ich habe Twitter gekauft, weil es für die Zukunft unserer Zivilisation wichtig ist, ein gemeinsames digitales Forum zu haben», schrieb Musk diese Woche in einem offenen Brief an die Anzeigenkunden von Twitter. Der Dienst solle ein Platz werden, auf dem «eine grosse Bandbreite an Meinungen auf gesunde Art diskutiert werden kann, ohne dass es in Gewalt ausartet.»
Ein hehrer Vorsatz. Denn wenn das tatsächlich funktioniert, kann Twitter dabei helfen, mit der gesellschaftlichen und politische Spaltung der Gesellschaft eine der drängendsten Fragen unserer Zeit zu lösen.
Doch Elon Musk schafft sich damit auch ein grosses Problem. Bei vielen hat er eine Erwartung geweckt: Jeder soll auf Twitter alles sagen können. Das klingt irgendwie gut, wie Freibier für die Demokratie.
Er wird dieses Versprechen nicht einlösen können. Denn die Vision, die der Unternehmer versucht, wahr werden zu lassen, ist gewissermassen unmenschlich. Sie ignoriert Realitäten, denen seine Utopie nicht standhalten kann.
Ob die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union, Indien, Russland oder China – jedes Land der Erde macht Gesetze. Die Tage des Internets als einem «rechtsfreien Raum» – der so nie existiert hat – sind lange vorbei. Egal, ob Demokratie oder Diktatur: Regierungen etablieren Regeln. An die müssen sich Unternehmen und auch deren Besitzer halten.
Eine freie Rede ohne die Einhaltung von Gesetzen wird also nicht eintreten. Das mag in einem Staat wie China die Zensur von politischen Inhalten sein, welche dem Regime nicht passen. Das mag in den USA oder in der EU ein öffentlicher Aufruf zum Selbstmord oder zur Gewalt sein, weil das ein Verbrechen darstellt.
«Comedy ist jetzt legal auf Twitter», verbreitete Musk kurz nach dem Kauf über sein Twitter-Konto. Auch das klingt gut.
Comedy is now legal on Twitter— Elon Musk (@elonmusk) October 28, 2022
Was aber, wenn ein «Go kill yourself» angeblich nur ein Spass sein sollte, sich aber wirklich jemand das Leben nimmt? Als Musks Twitter-Kauf besiegelt war, soll die Anzahl antisemitischer Tweets rasant angestiegen sein. Alles kein Spass. Wie soll das strafrechtlich verfolgt werden, ohne staatlichen Zugriff auf Nutzerdaten? Egal, wem Regeln aus welchen Gründen auch immer nicht passen mögen.
Auch Elon Musk wird mindestens Nutzungsbedingungen umsetzen müssen, die den aktuellen Gesetzen der jeweiligen Länder entsprechen. Am Ende entscheiden Gerichte darüber, wie diese ausgelegt werden.
Wer keine Räuber, Mörder, Randalierer oder sonstige Unruhestifter in die eigene Wohnung lassen möchte, hat darauf womöglich auch im digitalen Raum keine Lust. Zumindest langfristig suchen Menschen auch im Internet für sich einen gewissen Schutz vor – ganz allgemein gesprochen – Inhalten, die ihnen unangenehm sind.
Das zum Scheitern verurteilte grosse Versprechen von der freien Rede für jeden ist keine Erfindung von Elon Musk. Auch die von Rechtskonservativen und Rechtsextremen geprägten Netzwerke wie Gettr, Truth Social, Parler oder Rumble werben damit, bei ihnen gebe es keine «Zensur» von Inhalten. Die Realität sieht aber anders aus. Auch auf diesen Plattformen gelten Regeln. Wer gegen sie verstösst, wird im Zweifel gesperrt.
Die Gründe dafür sind einfach: Wer sich nicht wohlfühlt, geht oder kommt nicht wieder. Gehen zu viele Nutzer, bedeutet das je nach Geschäftsmodell und je nach Ziel des Unternehmens: weniger Einfluss, weniger Macht und weniger Geld.
Damit sich eine ausreichend grosse Mehrheit also weiterhin «zu Hause» fühlt, muss eine zu unbequeme Minderheit vergrault werden. Es ist ein unauflöslicher Zwang: Keine Plattform der Welt kann «Everybody's Darling» sein. Dafür sind die Komfortzonen und Interessen von Menschen und auch von Machthabern viel zu unterschiedlich.
Je nach Geschäftsmodell einer Social-Media-Plattform ist es nicht nur die sogenannte User-Experience, sondern sind es auch die Erwartungen der überlebenswichtigen Werbekunden.
Wer bei Twitter Werbung schaltet, erwartet ein Umfeld, das den Ruf der eigenen wertvollen Marke nicht beschädigt. Nicht nur der Staat, nicht nur die Nutzer, sondern auch die Anzeigenkunden erzeugen also einen permanenten Druck. Dem kann sich ganz besonders der reichste Mann der Welt kaum entziehen.
Elon Musk besitzt nicht nur Twitter. Der Tesla-Chef will zur Rettung der Menschheit in erster Linie seine Elektroautos verkaufen und nebenbei auch weiterhin Staatsaufträge der amerikanischen Nasa für seine SpaceX-Weltraumexpeditionen bekommen. Der Wert seiner Marken ist direkt verknüpft mit seinem Namen. Musk würde seine Geschäftsmodelle gefährden, würde er ausgerechnet negative Schlagzeilen machen wegen schwerwiegender Probleme bei Twitter.
Das klingt nach einem Himmelfahrtskommando. Nicht an allem aber muss Musk zwangsläufig scheitern. Seinen Kampf gegen Bots und Fake-Accounts wie angekündigt konsequent zu führen, könnte ihm zum Beispiel gelingen. Er würde damit auch für andere Plattformen einen neuen Goldstandard setzen.
Was bleibt, ist ein Problem: Auch echte Menschen verbreiten Lügen und Halbwahrheiten. Oder sie versuchen, Fakten zu unterdrücken. Endgültig zu entscheiden, was Lüge und Wahrheit sein kann – das könnte auch kein Wahrheitsministerium.
Kann es dafür überhaupt Lösungen geben? Die von Musks geschürten Erwartungen zur freien Rede bringen Diskussionen in Gang, die noch lange andauern werden.
Wie wollen die Menschen im Zeitalter der Digitalisierung leben? Findet sich ein Weg, der nicht einem zensorischen, umfassenden Kontrollmodell Chinas entsprechen wird? Findet sich ein Weg, der zugleich nicht im Chaos endet, weil die demokratische Ordnung auf dem Altar einer völlig freien, also auch gewaltvollen und undemokratischen Rede geopfert wird?
Eine Erkenntnis, die sich vielleicht durchsetzen muss: Es geht heute nicht mehr darum zu kontrollieren, wer spricht. Die Rede muss nicht befreit werden. Dazu gibt es durch das Internet inzwischen viel zu viele, quasi unendliche Möglichkeiten sich zu äussern.
Musk legt einen Kampf offen, der um die freien Zuhörer und freien Zuschauer geführt wird. Denn im Internet wird transparent, wie Empfänger frei entscheiden, welchen Sendern sie zuhören und welche sie einschalten – mit allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen.
Russland, China und auch autoritäre Kräfte im Inland haben diese im Grunde sehr basisdemokratische und darum sehr Populismus anfällige Realität demokratischer Gesellschaften vielleicht viel besser verstanden als die freien Gesellschaften.
Der Kauf von Twitter kann auch als Aufgabe verstanden werden, sich auf einen Weg zu machen, von dem noch nicht klar ist, wann er zu Ende ist.
Es gehört zu den Fähigkeiten des Mars-Menschen Musk, Visionen zumindest zu formulieren, mögen sie noch so naiv klingen. Sich mit ihnen zu beschäftigen und zu diskutieren, ist unbequem. Aber es verhindert, blind in eine falsche Richtung zu laufen oder stehen zu bleiben.
Twitter wird doch bloss von bekannten Personen, dauerempörten und bequemen Journalisten benutzt. Und natürlich Bots.
Ein Medium, welches nicht das geringste Vertrauen geniesst und trotzdem immer wieder als gesellschaftliche Tatsache herangezogen wird, wenn 10 Personen einen Post liken.
Es ist toll, dass alle Menschen weltweit Ihre Meinung veröffentlichen können, aber es sollten die wenigsten machen.
Dies ist meine Meinung 🤗