Das Nokia 7.2 ist eines dieser neuen, günstigen Smartphones, von denen man zuerst nicht viel erwartet und dann mit jeder Minute positiv überrascht wird.
Design? Nordisch-minimalistisch.
Akku? Ausdauernd wie ein Finne in der Sauna.
Geschwindigkeit? Für WhatsApp-Chats und ein paar Runden «Mario Kart» reicht's allemal.
Besonderheit? Vielseitige Dreifach-Kamera und Original-Android ohne Bullshit-Apps.
Preis? Im Online-Handel ab 280 Franken (Stand November 2019).
Wer neugierig geworden ist, darf nun weiterlesen:
Wir treffen den finnischen Hersteller HMD Global hoch über den Dächern von Zürich in der Jules Verne Panoramabar (ein Foto der Aussicht gibt es in der Diashow). Der Ort ist Programm: Hoch hinaus wollen sie wieder, die Finnen. Das Nokia 7.2 sei das aktuell mit Abstand populärste Nokia-Handy, versichern sie. Das nimmt man ihnen auch ab: Es spricht Menschen an, die ein schönes, solides Smartphone zu einem vernünftigen Preis suchen und auf Oberklasse-Funktionen wie 5G oder den neusten Prozessor verzichten können.
Schlicht, schnörkellos, schön: Das neue Nokia-Handy von HMD punktet bei der Optik – und das muss es auch. In der Preisklasse unter 300 Franken findet man zig andere China-Smartphones mit vergleichbaren (oder gar besseren) Spezifikationen. Die Finnen überzeugen mit perfekter Verarbeitung und einem Design, das 1000-Franken-Handys in nichts nachsteht.
Die grösste Überraschung für mich: Ich dachte wochenlang Rahmen und Rückseite seien aus Metall. Die metallische Optik ist von HMD natürlich gewollt, zum Einsatz kommen aber satiniertes Glas für die Rückseite und ein Polymer-Verbundwerkstoff für den Rahmen. Im Endeffekt fühlt sich das Gerät so hochwertiger an als viele andere Smartphones, die das Vielfache kosten.
Für mich und wohl alle anderen Ottonormalverbraucher ist das Display mit einer Auflösung von 1080 Mal 2280 Bildpunkten (Full-HD+) mehr als ausreichend, da der Unterschied zu noch höher aufgelösten Displays von blossem Auge nicht auszumachen ist. Mehr Pixel mögen für das Marketing von Vorteil sein, saugen aber vor allem den Akku unnötig leer.
Viel wichtiger als die Pixelzahl: Der Screen ist ausreichend hell (500 Nits), so dass man auch draussen bei Sonnenschein bei maximaler Helligkeit keine Probleme hat.
Eine interessante Wahl ist das Gerät für alle, die gerne Netflix und Co. auf dem Handy schauen. Das Nokia 7.2 unterstützt wie schon der Vorgänger HDR10 (sehr viele Helligkeitsstufen) und kann so den Kontrast von Filmen bzw. Videos in Echtzeit hervorheben.
Beim Kontrast und den Farben kann das günstige LCD-Display nicht mit teureren OLED-Screens mithalten. Schwarz ist hier nicht ganz schwarz und Farben sind allgemein weniger intensiv. HMD nutzt daher die PureDisplay-Bildschirmtechnologie und HDR10 (High Dynamic Range), um bei Filmen und Serien ein OLED-ähnliches Erlebnis zu ermöglichen. Dass dies kein leeres Marketingversprechen ist, sondern tatsächlich funktioniert, zeigt das oben stehende Vergleichsfoto. Auch TV-Hersteller wie Samsung nutzen HDR10 in ihren neueren Geräten, um den Kontrastumfang zu erhöhen. Im Endeffekt geht es dabei einfach darum, das Bild so plastisch wie möglich wirken zu lassen.
Dank des langgestreckten Displays im 19,5:9-Format liegt das grosse Smartpone noch einigermassen gut in der Hand – da es nicht ganz so breit wie manch andere Geräte ist.
Erfahrungsgemäss liegen Smartphones bis rund 70 Millimeter Breite auch bei kleinen Händen sehr gut in der Hand. Mit 75 mm ist das Nokia 7.2 spürbar breiter. Es ist übrigens fast gleich gross wie der inoffizielle Vorgänger Nokia 7 Plus und deutlich grösser als der direkte Vorgänger Nokia 7.1 aus dem letzten Jahr.
HMD hat mit dem Snapdragon 660 von Qualcomm einen zwar schon etwas älteren und somit günstigen, aber immer noch guten Prozessor ins Nokia 7.2 gepackt. Selbst neue 3D-Games wie «Mario Kart Tour» laufen problemlos. Trotzdem: Wer ein Smartphone speziell für leistungshungrige Games sucht, sollte besser zu einem Gerät mit einem Prozessor aus der 700er- oder 800er-Serie greifen, für alle anderen tut's der bewährte 660-Chip.
Noch ein Wort zu Prozessoren: Gerade in der Schweiz kaufen viele (schlecht informierte) Kunden Geräte mit hochgerüsteten Prozessoren, deren Leistung sie nie auch nur annähernd brauchen. Dies geschieht wohl meist aus der Angst heraus, ein günstigerer Prozessor wäre zu langsam. Um es klipp und klar zu sagen: Ein Snapdragon-Chip aus der 600er-Serie mit mindestens 4 GB Arbeitsspeicher (RAM) ist im Alltag für sehr, sehr viele Menschen ausreichend und spart einem hunderte von Franken.
Anders gesagt:
Ich habe das Modell mit 4 GB Arbeitsspeicher einen Monat im Alltag genutzt und brachte das Gerät auch mit über 20 geöffneten Apps nicht an seine Leistungsgrenze (im Durchschnitt lag die RAM-Auslastung bei 56 Prozent).
Der Akku hat eine durchschnittliche Kapazität von 3'500 Milliamperestunden (mAh). Im Preissegment unter 300 Franken ist diese Grösse sehr okay. Mit Googles Original-Android und einem soliden Mittelklasseprozessor, der nicht übermässig energiehungrig ist, kommt man so auch ohne Energiesparmodus problemlos durch den Tag. An manchen Tagen hatte ich am Abend noch 50 Prozent Restkapazität.
Nach 30 Minuten am Kabel ist der Akku gerade mal zu 33 Prozent geladen. Nach einer Stunde steht die Anzeige bei 66 Prozent. Teurere Android-Smartphones sind da via USB-C-Schnellladung schon längst wieder voll geladen. Auch kabelloses Laden funktioniert beim Nokia 7.2 nicht.
Das Problem: Das mitgelieferte Ladegerät hat eine Ausgangsleistung von gerade mal 10 Watt. Das ist zwar schneller als die üblichen 5W-Netzteile bei den allermeisten iPhones, aber massiv weniger als die 18 bis 40 Watt, die moderne Smartphones mit USB-C leisten. HMD hat, um den Preis unter die 300-Franken-Grenze zu drücken, beim USB-C-Anschluss gespart und nutzt den langsamen Standard 2.0. Man kann das Handy also auch nicht mit einem stärken Netzteil schneller laden.
Die 48-MP-Hauptkamera wird von einer 8-MP-Ultraweitwinkel-Linse und einem 5-MP-Tiefensensor für Potraitaufnahmen mit Tiefenschärfe (verwaschener Hintergrund) sekundiert. Bis vor Kurzem fand man eine solche Ausstattung nur in Premium-Geräten.
Von der Videoqualität sollte man keine Wunder erwarten, zumal der Kamera eine mechanische bzw. optische Bildstabilisierung fehlt. Bei der Auflösung kann man zwischen HD, Full-HD und 4K wählen. Basisfunktionen wie Zeitraffer und Zeitlupe gibt es ebenfalls, Gimmicks wie Ultrazeitlupe sucht man hingegen vergebens.
Für manche interessant dürfte die Dual-Sight-Funktion sein, die es ermöglicht, mit der Haupt- und Frontkamera gleichzeitig Fotos zu schiessen bzw. Videos zu drehen. Das geht als frei wählbarer Split-Screen oder als Bild-in-Bild-Funktion, wie hier zu sehen ist.
HMD versucht beim Nokia 7.2 mit der Dreifach-Kamera zu punkten. Von anderen Günstig-Handys soll sie sich vor allem durch die Ultraweitwinkel-Linse abheben, die man bis vor Kurzem nur in Premium-Geräten fand. Portrait-Aufnahmen mit Tiefenschärfe und ein Nachtmodus sind ebenfalls an Bord.
Wie gut das alles klappt, zeigen die folgenden Aufnahmen.
Das Fazit zur Kamera: Die Kamera ist für den sehr moderaten Preis sehr ansprechend, hat aber gegen die Top-Modelle von Huawei, Xiaomi, Samsung oder Apple keinen Stich. Die weit teureren Rivalen knipsen insbesondere bei schlechtem Licht weit bessere Fotos und bieten teils eine noch grössere Palette an Aufnahmemodi. Apropos Modi: Wer oft zwischen den Aufnahmefunktionen hin und her wechselt, dürfte sich über das langsame Umschalten ärgern. Hier müsste HMD mit einem Software-Update nachbessern.
Eine optische Bildstabilisierung für verwacklungsfreie Fotos, die bei wenig Licht wichtig wäre, hat sich HMD gespart. Auch fehlt ein verlustfreier, optischer Zoom, wie er in Spitzenmodellen inzwischen Standard ist.
Bei guten Lichtbedingungen kann man tolle Potrait-Aufnahmen mit simulierter Tiefenschärfe schiessen. Persönlich gestört hat mich jedoch der übertrieben und unnatürlich wirkende Bokeh-Effekt (verwaschener Hintergrund). In der Standardeinstellung übertreibt es die Kamera, was zu künstlich wirkenden Portrait-Aufnahmen führt. Manche Leute mögen dies vielleicht, alle anderen können den aggressiven Bokeh-Effekt in der Kamera-App reduzieren.
Kurz gesagt: Bei der Kamera gilt Quantität vor Qualität. Sie kann fast alles, aber nichts perfekt. Das kann man bemängeln oder sich einfach daran freuen, dass man in einem sehr günstigen Smartphone diverse Modi wie Portrait mit Tiefenunschärfe, Ultraweitwinkel und Nachtmodus bekommt. Darüber hinaus ist es auch wieder möglich, mit der Haupt- und Frontkamera gleichzeitig Fotos zu schiessen bzw. Videos zu drehen.
Trotz der Schwächen gilt: In der Preiskategorie unter 300 Franken dürfte es aktuell schwierig sein, eine merklich bessere bzw. vielseitigere Kamera zu finden. Wer sowieso fast nur bei Tageslicht fotografiert, kann sehr gut mit der Nokia-Kamera leben. Der Ultraweitwinkel-Modus ist extrem nützlich und teils nicht mal in weit teureren Geräten zu finden. Und wer noch mehr rausholen will, installiert sich Googles Vorzeige-Kamera-App auf dem Nokia 7.2. Diese bringt offenbar sogar den Astrofotografie-Modus des Pixel 4 auf das Nokia-Phone (was ich selbst nicht ausprobiert habe).
Fast alle neuen Smartphones lassen sich per Gesichtsscan entsperren, so auch das Nokia 7.2. Im Vergleich zu anderen Geräten, die ohne Verzögerung entsperren, nimmt sich das Nokia-Handy stets eine Sekunde Bedenkzeit. Wird es zu dunkel, funktioniert es überhaupt nicht mehr.
Auf eine teurere, aber weit sicherere 3D-Gesichtserkennung, die Apple, Huawei und Google in ihren Top-Geräten verbauen, muss man hier aus Kostengründen verzichten. Im Alltag empfand ich die Kombination aus Fingerabdruck-Scanner auf der Rückseite und nur bei Tag brauchbarer Gesichtsentsperrung trotzdem zufriedenstellend.
Die meisten Google-Apps wie Maps, Gmail oder insbesondere Fotos sind zugegebenermassen exzellent. Wer sie nicht möchte, kann sie durch beliebige Alternativen aus dem Play Store ersetzen.
Wie alle Nokia-Smartphones kommt auch das Nokia 7.2 mit Stock Android, also Googles Original-Android ohne Modifikationen. Von HMD selbst stammt lediglich die Kamera-App. Man bekommt also ein schlankes, sicheres und rund laufendes Betriebssystem ohne Ballast. Dinge, wie zwei vorinstallierte Browser, zwei E-Mail-Apps, zwei Kalender etc. – wie man es von anderen Android-Geräteherstellern leider gewohnt ist – gibt es nicht.
HMD sichert zwei Betriebssystem-Updates und drei Jahre Sicherheits-Updates zu. Was gut klingt, hat in der Praxis einen Haken: Da das Nokia 7.2 noch mit Android 9 von 2018 verkauft wird, gilt die anstehende Aktualisierung auf Android 10 bereits als erstes grosses Betriebssystem-Update. Kunden müssen also damit rechnen, dass bereits nach Android 11 Schluss mit System-Updates sein wird. Ob man danach Android 12 erhält, hängt vom Goodwill des Herstellers ab.
Wegwerfen muss man das Smartphone nach zwei, drei Jahren aber noch lange nicht. Da Google seine Apps unabhängig von Android entwickelt und aktualisiert, erhält man neue Funktionen für Gmail, YouTube, Google Maps etc. weiterhin, auch wenn das Betriebssystem keine Updates mehr erfährt.
Bei HMD ist man zurecht stolz darauf, Updates von allen Android-Herstellern am schnellsten auszuliefern (Google ausgenommen). Ausgerechnet beim neuen Nokia 7.2 hapert es diesbezüglich. Stand 10.11.2019 ist erst das Sicherheits-Update von Anfang September installiert, HMD hinkt also zwei Monate hinterher. Für eine Firma, die bei jeder Gelegenheit mit ihrer Update-Politik wirbt, ein schlechtes Zeugnis, zumal Rivale Samsung bereits das Update für November verteilt hat.
Die Idee ist eigentlich gut, das LED-Licht kann aber nachts im Schlafzimmer stören. Dies kann man mit dem «Nicht-Stören-Modus» verhindern, oder man deaktiviert die LED-Benachrichtigung in den Systemeinstellungen vollends.
Ich nutze den Google Assistant regelmässig, aber wofür man eine separate Taste braucht, konnte mir auch Nokia nicht schlüssig beantworten. Der Sprachassistent lässt sich bekanntlich bequem mit dem Befehl «Ok Google» oder per langem Tippen auf den Home-Button aktivieren. Der einzige Unterschied: Hält man die Taste auf der Seite gedrückt, hört der Assistent mit, bis man sie wieder loslässt – wie bei einem Funkgerät.
Nicht ganz. Wer für wenig Geld möglichst viel Technik möchte, kommt bei chinesischen Anbietern wie Xiaomi besser weg (insbesondere die Redmi-Reihe oder das Pocophone sind preislich sehr attraktiv). Trotzdem haben die Finnen mit dem Nokia 7.2 ein sehr massentaugliches Modell am Start, bei dem das Gesamtpaket aus Design, Leistung und Software stimmt.
Das mit knapp 300 Franken preislich und optisch attraktive Smartphone fühlt sich wie die Spitzengeräte der Konkurrenz an und die Akkulaufzeit gibt ebenfalls keinen Anlass zur Kritik. Auch reicht die Geschwindigkeit völlig aus und die vielseitige Kamera erfreut den Gelegenheitsknipser mit kleinem Budget. Mit den drei Mal so teuren Top-Geräten von Apple, Samsung oder Huawei kann es aber natürlich nicht mithalten.
Das muss es auch nicht. Doch wer nur 200 Franken mehr in die Hand nimmt, also rund 500 Franken, bekommt bereits absolute Top-Smartphones wie zum Beispiel das Oppo Reno 2 (Test folgt). Auch Spitzengeräte wie das P30 bzw. Mate 20 Pro von Huawei findet man bei Aktionsangeboten ab 500 Franken. Anspruchsvollen Kunden, die bei der Leistung keine Kompromisse eingehen wollen, würde ich zu einem dieser drei Geräte raten.
Wer hingegen bewusst ein Gerät unter der 300-Franken-Grenze sucht, macht mit dem neuen Nokia-Phone definitiv nichts falsch. Man erhält ein attraktives Smartphone auf dem ein schlankes, sicheres und rund laufendes Betriebssystem läuft. Gegenüber dem Vorgänger 7.1 von 2018 ist es in fast allen belangen besser, nur leider weniger handlich, da grösser und breiter.
Ein Porsche Taycan lässt einen VW ID.3 auch in allen leistungsrelevanten Bereichen stehen.
Das wird das Geschenk für meine Mutter.
Sie hat ein Uraltes Sony, das Stirbt nurnoch vor sich hin.
Das Design gefällt mir irgendwie, hat was Rustikales.