Wenn Apple tatsächlich Ernst macht, kommt es zu einem ungeheuren Paradigmenwechsel: Bis dato konnte man davon ausgehen, dass ein Gerät für seinen Nutzer, oder seine Nutzerin, arbeitet. Neu arbeitet es offiziell auch gegen sie. Oder stellt sie zumindest unter Generalverdacht.
Zunächst trifft es die Amerikanerinnen und Amerikaner. Sie sollen diesen Herbst einwilligen, dass Apple auf ihren iPhones und iPads nach streng verbotener «Kinderpornografie» (ein schlimmer Begriff!) suchen darf. Aber nur nach behördlich bekannten Bildern von sexuellem Kindesmissbrauch (CSAM). Und nur, wenn die User «iCloud-Fotos» nutzen.
Dieser Beitrag dreht sich um brennende Fragen und neue Antworten. Es geht dabei vorrangig um den geplanten CSAM-Scanner und nur in zweiter Linie um die ebenfalls angekündigte Überwachung der Nachrichten-App (ehemals iMessage) auf Geräten minderjähriger Nutzerinnen und Nutzer.
Es ist schon sehr viel Kritisches geschrieben worden zu den von Apple angekündigten Überwachungs-Tools. Hier geht es zunächst um einen Aspekt, den die Unternehmensführung nach meiner Einschätzung gewaltig unterschätzt hat.
Ausgerechnet den Erfindern des modernen Smartphones, mit dem ein neues Computer-Zeitalter eingeläutet wurde, scheint eine schwere psychologische Fehleinschätzung unterlaufen zu sein. (*Gemeint ist das iPhone, das 2007 mit seinen für berührungsempfindliche Displays optimierten Multi-Touch-Gesten die Computerbedienung revolutionierte).
Bis heute konnten die Nutzerinnen und Nutzer davon ausgehen, dass ihre Daten auf ihren Geräten privat sind. Strenggenommen ist auch das eine fragwürdige Vorstellung, wie wir nach unzähligen Tracking- und Spionage-Skandalen wissen, ja. Aber nichtsdestotrotz gilt grundsätzlich: Dank Verarbeitung auf dem Gerät selbst wird vermieden, dass Daten in Rechenzentren hochgeladen werden. Apple selbst hat damit geworben: «What happens on your iPhone...»
Neu soll die geräteinterne Verarbeitung von Daten als Mittel zum Hochladen in die iCloud eingesetzt werden.
Auch wenn das System derzeit nur auf illegale Inhalte zugeschnitten ist, ändert es die Rolle des Betriebssystems aus Usersicht grundlegend. Das Gerät selbst wird in die Rolle des Überwachers und Gesetzeshüters versetzt.
Damit bricht Apple das Grundvertrauen, das die Nutzerinnen und Nutzer seit den Anfängen der Computertechnik hatten: Nämlich dass ein Gerät «das eigene Gerät» ist, so wie dein Velo, dein Auto oder dein Haus «dein» Eigentum ist.
Jason Snell, langjähriger (früherer) Chefredaktor des US-Fachmagazins «Macworld», bringt es auf den Punkt:
Wer im Herbst auf die neuen Betriebssysteme iOS 15, respektive iPadOS 15, aktualisiert, schafft die Voraussetzungen für die Überwachungs-Tools (siehe unten). Das heisst aber nicht, dass sie auch gleich laufen, wenn sie später von Apple mit einem Software-Update ausgerollt werden.
Die Funktionen werden gemäss Apple im Herbst starten für alle User, die ein US-amerikanisches iCloud-Konto nutzen — unabhängig davon, wo sie sich aufhalten. Entscheidend sei das Land, in dem das iCloud-Konto geführt wird, nicht die Sprach- bzw. Regionen-Einstellungen individueller Geräte.
Eine US-Amerikanerin in der Schweiz, die sich ursprünglich in den Vereinigten Staaten bei Apples iCloud registrierte und den Speicherdienst für ihre Fotos nutzt, wird also hierzulande ebenso überwacht wie ihre Landsleute in der Heimat.
Apple versichert zudem, dass die tief ins Betriebssystem integrierte Überwachungsfunktion nur laufe, wenn man in den iCloud-Einstellungen «iCloud-Fotos» aktiviert hat.
Nicht von der Überwachung betroffen seien iCloud-Foto-User in der Schweiz und anderen Ländern, selbst wenn auf ihrem Gerät unter «Sprache & Region» die USA eingestellt sind.
Ja. Dies ist laut Apple vorgesehen.
Die Fotos der Nutzerinnen und Nutzer, die sich schon auf der iCloud befinden, sind ebenfalls Teil des Verfahrens, wie das Unternehmen gegenüber watson bestätigt. Diese Bilder sollen nach und nach mittels des NeuralHash-Verfahrens abgeglichen und auf dem Gerät mit «Vouchers» versehen werden.
Der Punkt oben dürfte einigen Apple-Kundinnen und -Kunden bislang nicht bewusst gewesen sein. Dazu kommen die Erkenntnisse, die wir kürzlich gewonnen haben:
Diesen Herbst hat über eine Milliarde iPhone-User die Qual der Wahl, ob sie tatsächlich auf iOS 15 upgraden. Wobei das Unternehmen auf die Bequemlichkeit vieler Kundinnen und Kunden hoffen darf: Wer sorgt sich über weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen, wenn knackige neue Features locken? Und es sollte eigentlich auch niemand etwas gegen den Kampf gegen Kindesmissbrauch haben, oder?
Was vielen iPhone- und iPad-Nutzerinnen und -Nutzern noch nicht bekannt sein dürfte: Bevor Apple voraussichtlich Mitte September (nach der Präsentation des iPhone 13) iOS 15 veröffentlicht und für den Download freigibt, muss auf den Geräten eine neue Wahlmöglichkeit geschaffen werden.
Die User sollen erstmals in der Einstellungen-App festlegen können, beim bisherigen System (iOS 14) zu bleiben. Wer sich dazu entscheidet, nicht auf iOS 15 zu wechseln.
Auf der Apple-Website zu iOS 15 heisst es:
PS: Die Ankündigung der Software-Update-Option erfolgte in der Juni-Woche, in der Apple seine Entwicklerkonferenz WWDC abhielt. Corona-bedingt (erneut) als reinen Online-Event. Merkwürdigerweise verlor man an der Keynote kein Wort zu den geplanten Kinderschutz-Tools.
Danach sieht es nicht aus.
Am Dienstag konnte der watson-Redaktor an einem Hintergrundgespräch mit einem hochrangigen Apple-Vertreter teilnehmen. Dabei wurde versucht, die technischen Feinheiten des geplanten Überwachungssystems zu erläutern. Da die Informationen «on Background» vermittelt wurden, dürfen die teilnehmenden Journalisten keine direkten Zitate verwenden. Das ist ein bei Apple übliches Vorgehen.
Während der Videokonferenz zeigte sich allerdings auch, dass Apples Kommunikationsstrategie zu den umstrittenen Kinderschutz-Tools vorsieht, nicht (mehr) auf die grundsätzlichen Bedenken gegenüber der «On-Device»-Überwachung und mögliche Bedrohungs-Szenarien einzugehen.
Die Apple-Leute, die sich gegenüber Journalisten äussern dürfen, vertreten nun den Standpunkt, dass sie nur über Dinge sprechen, die ihr Unternehmen konkret angekündigt hat. Detailfragen rund um die technische Umsetzung des «Kinderporno-Scanners» werden also nicht beantwortet.
Laut Apple handelt es sich gar nicht um «Scanning». Hier zeigt sich eine weitere PR-Taktik des Unternehmens: Durch spitzfindige Unterscheidungen wird versucht, die geplanten Überwachungsmassnahmen als harmlos darzustellen.
Die Strategie ist klar: Da sich die von Datenschützern, IT-Sicherheitsexperten, Menschenrechts-Aktivisten, Juristinnen und Politikern geäusserten Bedenken und Befürchtungen nicht entkräften lassen, lässt man sie links liegen. Und Apples CEO, der sich in der Vergangenheit als «Privacy»-Verfechter hervorgetan hat, hüllt sich weiter in Schweigen.