Von seinem schelmischen Lächeln sollte man sich nicht täuschen lassen.
Raubtier bleibt Raubtier.
Der Alibaba-Gründer ist eine faszinierende Mischung aus Konfuzius und Sun Tsu, gewürzt mit zwei Prisen Humor und Verrücktheit. Seine Anhänger verehren ihn als chinesischen Steve Jobs, der mit Charisma und moderner Technik die Welt verändert. Seiner gewinnenden Art und dem charmant holprigen Englisch kann sich kaum jemand entziehen ...
Hinter dem sanftmütigen Männlein, das früher gerne den Clown und den Rockstar spielte, verbirgt sich ein genialer Stratege und knallharter Geschäftsmann. Verrückt ist der 54-Jährige ganz sicher nicht. Er ist ein Tiefstapler, ein Meister der Täuschung. Oder, wie man es auch sagen könnte: Er hat «Die Kunst des Krieges» perfekt verinnerlicht.
Längst hat das Krokodil seinen Heimatfluss verlassen, die Ozeane überquert und schwimmt in fremden Gewässern, in denen ein anderes Raubtier unterwegs ist. Ein brandgefährlicher Prädator ...
Gleich geht's weiter mit der Analyse, vorher ein kurzer Hinweis:
Und nun zurück zu Amazon und Alibaba ...
2006. An einer Tech-Konferenz in San Francisco hält Jack Ma eine seiner legendären Reden, die gespickt sind mit Lebensweisheiten und lockeren Sprüchen.
«Glaube an deine Träume, finde gute Leute und sorge dafür, dass der Kunde glücklich ist», sagt er dem Publikum, in dem viele Leute aus dem Silicon Valley sitzen.
Und mit Blick auf deren Expansionsgelüste Richtung Asien mahnt er: «Ich sehe, dass viele US-Unternehmen professionelle Manager nach China schicken. Diese machen zwar ihren Chef in den USA glücklich, aber nicht die chinesischen Kunden.»
In einer der hinteren Reihen sitzt der Amazon-Gründer und schreibt eifrig mit. Sieben Monate später wird Jeff Bezos dem «Wall Street Journal» ein Interview geben und Mas Rat fast wörtlich wiedergeben. Wenn auch ohne Quellenangabe...
Bezos und Ma haben beide ein Flair für Magie. Der Alibaba-Chef steht auf «Sesam öffne dich» und 1001 Nacht, das ist klar. Und fast hätte der Amazon-Gründer sein Unternehmen in Anlehnung an den bekanntesten aller Zaubersprüche «Cadabra» genannt. Ein Anwalt riet ihm ab.
Lange Zeit kamen sich die Multimilliardäre in ihrem Stammgeschäft, dem E-Commerce, nicht in die Quere. Jeder blieb auf seinem Terrain. Amazon beschränkte sich auf die USA, Europa und Japan – also auf reiche Staaten, in denen die Bevölkerung die grösste Kaufkraft, bzw. viel Einkommen, hat. Alibaba konzentrierte sich auf seinen riesigen Heimmarkt.
Dass sich die beiden Tech-Giganten mit dieser Aufteilung nicht zufriedengeben würden, war klar. Bezos und Ma haben unstillbaren Machthunger. Mit ihren Unternehmungen streben sie eine globale Dominanz in allen wichtigen Geschäftsbereichen und Branchen an.
Was den Detailhandel betrifft, schaffen Alibaba und Amazon Systeme, in «denen jeder jederzeit jedes x-beliebige Produkt bestellen kann und ins Haus geliefert bekommt».
Nach dem Siegeszug des E-Commerce verschmelzen Online- und Offline-Business. Das unverzichtbare Werkzeug: Big Data.
Wohlgemerkt: Das Auswerten riesiger Datenmengen ist keine Wunderwaffe. Doch versprechen die Erkenntnisse, die man gewinnt, entscheidende Vorteile im Kampf um die Wirtschafts-Krone. Wer die Kundschaft durchschaut und genau weiss, was sie wirklich (kaufen) will, ist nicht zu stoppen.
Unternehmen wie Nestlé geben Vermögen aus für Marktforschung. Alibaba hilft ihnen – natürlich gegen Bezahlung –, massgeschneiderte Produkte zu entwickeln. Dies tun die Chinesen, indem sie die Daten von hunderten Millionen Usern auswerten, die auf den verschiedenen Plattformen einkaufen, Dinge suchen und teilen. Zumindest im Heimmarkt China scheint dies bereits perfekt zu funktionieren.
Der Wirtschafts-Dienst Bloomberg berichtete letzten Oktober über einen aus Sicht der beteiligten Unternehmen vielversprechenden Ansatz. Alibaba habe dem Schokoriegelproduzenten Mars Inc. ein umfangreiches Datenarchiv über chinesische Konsumenten zur Verfügung gestellt. Der Konzern nutzte die Daten, um einen scharfen Snickers-Riegel zu entwickeln, der mit Sichuan-Chillis gewürzt ist.
Laut Bloomberg braucht Mars in der Regel Jahre, um ein neues Produkt zu verfeinern – aber mit Hilfe von Big Data sei es gelungen, das neue Snickers in weniger als einem Jahr zu kreieren.
Alibabas Marktforschungsabteilung, das Tmall Innovation Center (TMIC), kann die Daten knacken und Unternehmen zeigen, was chinesische Konsumenten suchen, aber nicht finden können. Wie eben einen süss-scharfen Riegel.
Wer die Plattformen des Unternehmens nutzen wolle, müsse den Allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmen, so wie es auch bei Amazon üblich ist. Nur langsam erwachten die chinesischen Konsumenten und würden sich der Problematik, dass sie viel von sich preisgeben, bewusst.
Datenschutz sei vorläufig noch kein grosses Thema, hält Bloomberg kritisch fest: Die Daten würden zwar anonym erhoben, doch könnten sich die User nicht entziehen.
Noch hat Amazon die Nase vorn, was die Umsätze im Einzelhandel betrifft. Und auch beim Cloud-Angebot ist das Unternehmen unangefochtener Marktführer.
Doch das bedeutet nicht, dass Jack Ma nur zusieht. Alibaba wurde inspiriert von Amazons Erfolg. Die Chinesen verfolgen jedoch eine völlig andere Strategie, und zwar im Einzelhandel wie auch in der Cloud-Sparte. In beiden Bereichen diversifiziert Alibaba viel stärker und konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: Data Science und Machine Learning.
Eine Schlüsselfigur, die seit Jahren in den Medien zitiert wird, ist Wanli Min. Der Datenwissenschaftler ist Manager bei Alibaba Cloud und für die Strategie verantwortlich, mit der der chinesische David den US-Goliath besiegen könnte.
Während sowohl Alibaba als auch Amazon möglichst viele Daten von den Kunden erheben, die ihre Marktplätze nutzen, könne das Endergebnis hinter den Daten nicht unterschiedlicher sein, kommentierte ein Forbes-Kolumnist.
Vereinfacht ausgedrückt agiert Amazon selber als Einzelhändler, und Alibaba hingegen als Plattformbetreiber. Dessen Ziel ist es, ein Ökosystem von Einzelhändlern zu betreiben und alle Beteiligten profitieren zu lassen.
Geld verdient Alibaba hauptsächlich mit Werbung und Verkaufsprovisionen. Und in Zukunft vermehrt mit der Bereitstellung und Entwicklung Cloud-basierter Analysen. Alibaba positioniert sich als Big-Data-Dienstleister für seine Partnerunternehmen und stellt ihnen ein Heer von Datenwissenschaftlern und Technik-Spezialisten zur Verfügung. Gemeinsam versuchen sie, neuartige Software zu entwicklen, um möglichst viel aus den Geschäftsdaten herauszuholen.
Dazu passt auch die Anfang dieses Jahres publik gewordene Übernahme des Berliner Start-ups Artisans. Die Software-Firma entwickelt Open-Source-Programme, die es ermöglichen, gewaltige Datenströme in Echtzeit zu analysieren.
Alibaba macht sich einen weiteren fragwürdigen Vorteil zunutze: Während Amazon bei jeder neuen Funktion der Sprachbox Alexa oder der geplanten In-die-Wohnung-Lieferung die Vereinbarkeit mit dem Datenschutz erklären müsse, fehle dafür in China jedes Bewusstsein. Das erleichtere Alibaba das Geschäft, kommentierte die Wirtschaftswoche.
Eine Konsequenz: In seinen Datenbanken speichert Alibaba mittlerweile die Fotos von Hunderten Millionen Kunden und kann diese biometrischen Daten ungefragt für das Testen neuer Dienstleistungen wie Smile To Pay nutzen.
Die Bezahldienste seien für Alibaba längst zu einem eigenen Wachstumstreiber und zur Quelle technischer Innovationen geworden. Die Alibaba-Tochter Ant Financial ist auf dem Weg, den weltweit bisher einmaligen Gesichtserkennungs-Dienst in China flächendeckend einzuführen.
Hatte ich schon erwähnt, dass Alibaba mit am meisten Patente für die Blockchain-Technologie hält? Jack Ma hat auch erklärt, dass er das Bargeld abschaffen will ...
Eines der nächsten lukrativen Schlachtfelder ist der Sport. Amazon Web Services (AWS) konzentriert sich auf die Formel 1 und ihre zahlungswilligen Fans.
Jack Ma hat derweil die Leichtathletik und den Fussball im Visier. Alipay ist offizieller Partner der UEFA und wird bis 2026 Online-Zahlungen und andere Finanzdienstleistungen für den europäischen Fussballverband erbringen. Es geht um schätzungsweise 420 Partien, die von Milliarden Menschen verfolgt werden. Und dann sind da noch die Olympischen Sommerspiele 2020 in Japan, wo Alibaba die Cloud-Infrastruktur betreiben und unter anderem die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten soll.
Bleibt die Frage, wie eng die Beziehungen zur chinesischen Regierung sind? Denn wenn ein Unternehmen in Peking in Ungnade fällt, kann dies verheerende Folgen haben.
Was wir sicher wissen: Jack Ma ist Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas.
Womit wir bei der staatlichen (digitalen) Überwachung und Big Brother angelangt sind. China übernehme schlicht die Marketingstrategien seiner erfolgreichsten Unternehmen, analysierte ein Journalistenkollege treffend.
Die Mächtigen in Peking scheint die Verletzung von Menschenrechten nicht zu kümmern. Schon gar nicht, wenn es um das Recht auf Privatsphäre und Datenschutz geht: Die chinesische Regierung sei mächtig stolz auf ihre Internetgiganten, kommentierte das «Manager-Magazin».
Bis 2030 will China zur Supermacht im Bereich der Künstlichen Intelligenz werden. Die Regierung hat dazu milliardenschwere Förderprogramme aufgelegt.
Und so könnte der verrückte Traum des Alibaba-Gründers tatsächlich in Erfüllung gehen: Bis 2036 will Ma zwei Milliarden Kunden erreichen und mit seinem Unternehmen zum fünftgrössten Player im Welthandel aufsteigen.
Vor dem Krokodil lägen dann nur noch vier Staaten: China, USA, Japan und die EU.
Für den vorliegenden Artikel wurden Angaben und Zitate aus diesen spannenden Beiträgen verwendet: