Erste Frauenministerin Afghanistans spricht über das Leid im Land
Über 2000 Menschen starben in dieser Nacht vom 1. September, als ein Erdbeben der Stärke 6,1 den Osten Afghanistans erschütterte. Auf den Bildern sah man zerstörte Häuser und Männer, die nach Überlenden suchten. Was man nicht sah: Frauen.
Seit der Machtergreifung der Taliban vor vier Jahren ist es Männern verboten, Frauen, die nicht zu ihrer Familie gehören, zu berühren. Weil Frauen ausserdem kaum arbeiten dürfen, fehlen in Spitälern Ärztinnen. Das wiederum bedeutet, dass Frauen nicht behandelt werden. Selbst blutende Frauen und Mädchen seien in den Tagen nach dem Erdbeben abgewiesen worden, berichteten Augenzeugen.
Weibliche Opfer wurden wegen fehlender Retterinnen an ihrer Kleidung aus den Trümmern gezogen, um Hautkontakt zu vermeiden. Viele wurden unter den Trümmer liegen gelassen.
Die Katastrophe steht exemplarisch für die Lage der Frauen seit der Rückkehr der Taliban vor vier Jahren. Für Sima Samar ist das kaum zu ertragen. Die 68-Jährige lebt heute im US-Exil, kämpfte schon vor der ersten Taliban-Herrschaft für Gleichberechtigung und wurde nach deren Sturz Afghanistans erste Frauenministerin. Im Gespräch mit CH Media erzählt sie, was sich seither verändert hat – und was sie am meisten an ihrer Heimat vermisst.
Was war das Erste, das Sie als Frauenministerin verändern wollten?
Sima Samar: Ich erinnere mich noch gut: Man gab mir nur einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Computer und ein Satellitentelefon – ein Büro hatte ich noch nicht. Mein Ziel war es, ein Frauenministerium zu gründen. Nach sechs Monaten gelang es: ein historischer Moment. Damals glaubte ich nicht, dass wir je zurückfallen würden. Ich wollte die Gleichberechtigung im Land voranbringen.
Das Frauenministerium haben die Taliban wieder abgeschafft.
Ja, etwa eine Woche, nachdem sie zurück an der Macht waren. Dafür führten sie die Sittenpolizei ein. Es ist symbolisch: Sie schufen die Behörde ab, die sich für Frauenrechte einsetzte, und gründeten eine Eingreiftruppe, deren Aufgabe es ist, Frauen zu kontrollieren. Als Erstes haben sie die Verfassung abgeschafft. Alle Gesetze der vergangenen 20 Jahre wurden rückgängig gemacht. Am meisten schmerzt mich das beim Gesetz, das häusliche Gewalt zu einer Straftat machte. Sie haben alles ausgelöscht, wofür wir so lange gekämpft haben.
Anstelle alter Gesetze wurden Dutzende eingeführt, die spezifisch Frauenrechte einschränken. Welche sind am einschneidendsten?
Es gibt über 100 Dekrete, die die Mobilität und Rechte der Frauen einschränken. Um nur ein paar zu nennen: Frauen müssen in der Öffentlichkeit komplett verschleiert sein, inklusive Gesicht. Ihre Stimmen sind in der Öffentlichkeit verboten, und sie dürfen Männer, mit denen sie nicht verwandt oder verheiratet sind, nicht direkt anschauen. Grossflächig durchsetzen können sie das Gesetz aber nicht. Zumindest gibt es keine behördlichen Instanzen, wie in einem Rechtsstaat.
Was droht den Frauen in diesem Fall?
Die Sittenpolizei darf – anders als die Sittenpolizei im Iran – Mädchen und Frauen, die sich nicht an die Gesetze halten, nach eigenen Ermessen bestrafen. Es gibt keinen Prozess, keinen Justizminister, keine Staatsanwälte.
Sie haben Afghanistan im Jahr 2021 verlassen, kurz bevor die Taliban die Macht übernommen haben. Wann wussten Sie, dass Sie gehen müssen?
Im Juni verliess ich Kabul, um meine Familie in den USA zu besuchen – wegen der Corona-Pandemie hatte ich sie lange nicht gesehen. Eigentlich wollte ich am 10. August zurückkehren. Doch kurz vor meiner geplanten Rückreise häuften sich die Meldungen, dass die Taliban Stadt um Stadt einnahmen. Familie und Freunde rieten mir dringend, zu bleiben. Also verschob ich meinen Flug auf den 20. August. Am 15. August jedoch übernahmen die Taliban Kabul. Mein ausgedrucktes Rückflugticket liegt bis heute zu Hause. Schon am Tag nach ihrer Machtübernahme standen Taliban vor meinem Haus und entwaffneten meine Bodyguards. Zwei Tage später durchsuchten sie die Räume – und wiederholten das mehrfach.
Ist Ihre Familie noch in Kabul?
Mein Bruder und mein Ehemann haben das Land verlassen. Zurückgeblieben sind meine 97-jährige Mutter und meine Schwestern. Wir sind in regelmässigem Kontakt.
Was vermissen Sie an Afghanistan am meisten?
Nun, es ist meine Heimat. 50 Jahre lang habe ich mich dafür eingesetzt, positive Veränderungen in diesem Land zu bewirken. Ein Leben im Exil habe ich mir nie gewünscht. Oft scherze ich mit Freunden, dass ich sogar den Staub von Kabul vermisse.
Sie haben schon mehrfach mit Taliban gesprochen. Wie haben die auf Sie reagiert?
Wenn sie bereit sind, zuzuhören, können sie sich verändern. Den meisten fehlt dazu aber die Bereitschaft, und die Führung erlaubt ihnen auch nicht, auf die Stimmen von Andersdenkenden einzugehen. Schon während der ersten Taliban-Herrschaft hatte der Anführer den Taliban verboten, Frauen aus Kabul zu heiraten. Dies, weil sich die, die das taten, veränderten. Ihre Haltung wurde weicher, sie wirkten offener und insgesamt zugänglicher – und sie waren sauberer.
Auch Männer werden unter der Taliban-Herrschaft eingeschränkt.
Ja. Sie können beispielsweise bestraft werden, wenn sie unbegleitete Frauen im Auto mitnehmen. Auch sie müssen sich bedecken, wenn auch nur vom Bauchnabel bis zu den Knien. Ausserdem ist von den Gesetzen gegen Frauen immer der ganze Haushalt betroffen. Als Mann lebt man in ständiger Angst, dass ein weibliches Familienmitglied belästigt oder verhaftet wird. Wenn die weiblichen Familienmitglieder sich weder bilden noch arbeiten dürfen, fehlt auch ein Einkommen. Das trägt zur wachsenden Armut im Land bei, die ist seit der Taliban-Übernahme von rund 50 auf rund 90 Prozent gestiegen – je nach Bericht.
En Afghanistan, un influenceur français Tibi Jones accusé de promouvoir le régime des talibans
— Le Point (@LePoint) August 30, 2025
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Die Taliban werben aber um Touristen – und Influencer berichten, das Land sei sicher, die Taliban freundlich. Eine Deutsche sagte gar zu «NBC», sie sei «wie eine Königin» behandelt worden. Ist also alles halb so wild?
Natürlich wird eine Touristin wie eine Königin behandelt. Mit Touristen verdienen die Taliban nicht nur Geld, sondern auch Fürsprecher. Dieselben Kämpfer, die heute Sicherheit versprechen, machten das Land einst durch Anschläge und Entführungen unsicher. Wer das Land besucht, sollte sich fragen: Würde ich hier unter diesen Bedingungen leben wollen? Ich habe da meine Zweifel. (aargauerzeitung.ch)