Die afghanischen Taliban haben auf ihrem rasanten Eroberungszug nun auch die Grossstadt Masar-i-Scharif im Norden eingenommen. Dort war bis vor wenigen Wochen ein grosses Feldlager der Bundeswehr, seit Ende Juni sind die deutschen Soldaten aus dem Krisenstaat abgezogen.
Auf ihrem rasanten Eroberungsfeldzug haben sich die islamistischen Kämpfer bis auf wenige Kilometer an die Hauptstadt Kabul herangekämpft.
Präsident Aschraf Ghani sprach am Samstag von einer schlimmen Lage. Nun stelle sich die «historische Aufgabe», den Tod weiterer Unschuldiger zu verhindern und die Errungenschaften für die Zivilgesellschaft der vergangenen 20 Jahre zu verteidigen.
Westliche Staaten, darunter Deutschland, Grossbritannien und die USA beschleunigten ihre Bemühungen, eigenes Personal und afghanische Ortskräfte vor den rasch vorrückenden Extremisten in Sicherheit zu bringen.
Rund 600 britische Soldaten sollen an diesem Wochenende in der Stadt eintreffen, um den Rückzug der britischen Bürger zu unterstützen. Sie werden auch die Umsiedlung von Afghanen unterstützen, die den britischen Streitkräften geholfen haben und nun Repressalien befürchten müssen.
US-Präsident Joe Biden hat sich angesichts der dramatischen Situation in Afghanistan mit seinem nationalen Sicherheitsteam ausgetauscht. Bei einer Videokonferenz habe man die laufenden Bemühungen «zum Abbau der zivilen Präsenz in Afghanistan» erörtert, schrieb das Weisse Haus am Samstagabend auf Twitter. Auch Vize-Präsidentin Kamala Harris war demnach bei dem Treffen zugeschaltet, in dem es auch um das schwere Erdbeben auf Haiti ging.
Seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen haben die Taliban grosse Teile des Landes erobert. Die Aufständischen wollen ein «Islamisches Emirat Afghanistan» errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel besprach am Samstag in einer Krisensitzung mit einem Teil ihres Kabinetts das weitere Vorgehen. In der Telefonkonferenz wurde beraten, wie mit Hilfe der Bundeswehr schnellstmöglich Mitarbeiter der deutschen Botschaft, Ortskräfte sowie Beschäftigte deutscher Organisationen ausgeflogen werden können.
Die Bundeswehr begann schon mit Vorbereitungen für die Evakuierung. Zum Einsatz kommen sollen dabei nächste Woche vor allem Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte (DSK); sie sind Teil der Nationalen Risiko- und Krisenvorsorge für diese Aufgabe.
In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Die genaue Zahl der Ortskräfte ist noch unklar.
Der afghanische Präsident äusserte sich nach langem Schweigen in einer TV-Ansprache zur dramatischen militärischen Lage. Dabei ging er aber nicht auf Spekulationen ein, er könne zurücktreten, um den Weg für eine Einigung mit den Islamisten frei machen. Er spreche mit politischen Führern und internationalen Partnern und wolle «bald» Ergebnisse vorstellen, sagte er lediglich.
Die Taliban setzen derweil ihren schnellen Vormarsch fort: Nur etwa 35 Kilometer vor Kabul habe es am Samstagmorgen Gefechte um Maidan Schar gegeben, der Hauptstadt der Provinz Wardak, sagte die Abgeordnete Hamida Akbari der Deutschen Presse-Agentur. Die Taliban beherrschten bereits einen Grossteil der Provinz.
Auch in die Grossstadt Masar-i-Scharif, die rund 500'000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt, versuchten die Taliban am Samstag einzudringen. Sie konnten aber nach Angaben örtlicher Politiker vorerst zurückgedrängt werden.
Update 20 Uhr: Inzwischen soll Masar-i-Scharif gefallen sein.
Landesweit gingen die Kämpfe am Samstag in mindestens fünf Provinzen weiter. Die militanten Islamisten konnten zwei kleine Provinzhauptstädte übernehmen: Scharana in der Provinz Paktika mit geschätzt 66'000 Einwohnern sei nach Vermittlung Ältester den Taliban kampflos übergeben worden, bestätigten lokale Behördenvertreter.
Wenig später bestätigten mehrere lokale Behördenvertreter, dass Regierungsvertreter und Sicherheitskräfte auch Asadabad, die Hauptstadt der Provinz Kunar im Osten des Landes mit geschätzt 40'000 Einwohnern, verlassen hätten. Man habe so zivile Opfer und Zerstörung verhindern wollen.
Zuvor waren mit Herat und Kandahar bereits die dritt- und die zweitgrösste Stadt des Landes an die Islamisten gefallen. Mit Pul-i Alam in der Provinz Logar haben die Taliban auch eine Provinzhauptstadt rund 70 Kilometer südlich von Kabul eingenommen.
Das US-Militär hatte am Donnerstag angekündigt, rund 3000 Soldaten als Verstärkung zum Flughafen Kabul zu verlegen, um die Reduzierung des Personals der US-Botschaft zu unterstützen. Sie sollten im Laufe des Wochenendes ankommen. Rund 5000 weitere Soldaten werden zudem im Nahen Osten stationiert, um als mögliche Verstärkung bereitzustehen.
Der britische Premier Boris Johnson sagte, Mitarbeiter der britischen Botschaft sollten Kabul binnen Tagen verlassen.
Frankreich will afghanischen Ortskräften und anderen gefährdeten Personengruppen unkompliziert Schutz in Frankreich gewähren. Als eines von nur drei Ländern stelle Frankreich weiterhin in Kabul Visa aus, hiess es am Freitagabend aus Élyséekreisen. Man bemühe sich ausserordentlich, afghanischen Künstlern, Journalisten und Vorkämpfern der Menschenrechte den Zugang nach Frankreich zu erleichtern.
(dsc/sda/dpa)
Exekution als Repressalie zu bezeichnen, finde ich doch recht schwierig.