Die Anfänge der Tigray-Rebellen führen bis in die 1970er zurück. Damals regierte noch der äthiopische Kaiser Haile Selassie das Land, bis er 1974 von der marxistischen Derg-Militärführung gestürzt wurde. Diese standen während ihrer gesamten Regierungszeit in Konflikt mit Rebellengruppen in der Provinz Eritrea (damals noch nicht unabhängig) und Tigray. So entstand 1975 die Volksbefreiungsfront von Tigray, kurz: TPLF. Ihr erklärtes Ziel war es, die Provinz Tigray zur Unabhängigkeit zu führen. Dafür kooperierten sie unter anderem mit eritreischen Rebellen. Mit viel Geschick erlangten sie zudem das Vertrauen in der lokalen Bevölkerung, wodurch ihr Einfluss in der folgenden Zeit schnell wuchs.
1988 schlossen sie sich mit einer von Amharen dominierten Gruppierung zusammen – der Beginn der Revolutionären Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF).
1991 startete die EPRDF unter der Führung der TPLF und unter Mithilfe eritreischer Rebellen eine Offensive gegen das Derg-Regime. Mit Erfolg setzte sich die EPRDF an die Spitze und übernahm die Regierung. Kurz darauf wurde die Demokratische Organisation des Oromovolkes (OPDO) in die EPRDF aufgenommen.
Die offizielle Gründung der EPRDF führt zu einer neuen Zielsetzung: Obwohl klar von der TPLF dominiert, gab diese den Wunsch nach Unabhängigkeit der Region Tigray auf. Stattdessen rückte die Führungsrolle innerhalb ganz Äthiopiens in den Fokus.
Einen sozialdemokratischen Ansatz verfolgend führten sie den sogenannten «ethnischen Föderalismus» ein. Nach diesem Prinzip wurde das Land in 10 ethnisch definierte Provinzen geteilt, welche von der jeweils ansässigen dominanten Bevölkerungsgruppe regiert wurde. Federführend war dabei der Tigriner Meles Zenawi – Premierminister von 1995 von 2012.
Seine Idee war risikobehaftet: Gemäss Experten schwächte diese Dezentralisierung die Einheit des Landes und übergab ihm und der TPLF/EPRDF noch mehr Macht und Kontrolle. Andererseits schürte er in den jeweiligen Provinzen den Wunsch nach eigenen ethnisch homogenen Staaten.
Dennoch schien die Strategie vorerst aufzugehen: Mit eiserner Hand ging Zenawi gegen separatistische Bewegungen vor und erreichte damit politische Stabilität. Dadurch wiederum verhalf er der Wirtschaft zu einem neuen Aufschwung und konnte Armut und Hunger im Land reduzieren. Unter dem Deckel der Repressionen begann die Opposition allerdings zu brodeln. Unmut herrschte vor allem bei den grössten Volksgruppen des Landes, den Oromo im Süden und Westen sowie den Amhara im Norden. Sie sahen die Minderheit der Tigray in der Regierungskoalition überrepräsentiert.
Zenawis Nachfolger, Hailemariam Desalegn, zeigte sich nach Amtsantritt 2012 um einiges kompromissbereiter. Er versuchte sich bei den ethnischen Spannungen als Vermittler und kam substanziellen Forderungen entgegen, erntete dafür aber keine Wertschätzung. Im Gegenteil: Das Ausmass der Forderungen wurde nur noch grösser, noch radikaler. Immer wieder kam es zu massiven Protesten, wodurch Desalegn zunehmend den Rückhalt in der eigenen Partei verlor. 2018 trat er schliesslich zurück.
Dann kam Abiy Ahmed. Mit ihm übernahm zum ersten Mal seit 27 Jahren ein Oromo den Posten des Regierungschefs – und mit ihm änderte sich einiges. Zunächst sorgte er vor allem für positive Schlagzeilen: Er schloss Frieden mit dem seit Jahren verfeindeten Eritrea, liess Kriegsgefangene frei und besetzte Schlüsselämter in der Regierung mit Oromo. Seine Politik und sein Charisma stiessen sowohl im In- als auch im Ausland auf positive Resonanz. Für seine Friedensbestrebungen erhielt er 2019 die wichtigste politische Auszeichnung der Welt: den Friedensnobelpreis.
Dann folgte noch im selben Jahr eine Entscheidung mit folgenschweren Konsequenzen: Abiy schlug vor, die vier Einzelparteien der EPRDF in einer einzigen Partei zu vereinigen. Drei von vier Parteien stimmten zu – die TPLF stimmte dagegen, spielte sie doch in der Bildung der EPRDF damals eine führende Rolle und stand lange an der Parteispitze. Sie fanden kein Gehör und wurden verdrängt.
Am 1. Dezember 2019 wurde die neue Partei unter dem Namen «Wohlstandspartei» ins Leben gerufen.
Infolge der neuen Parteigründung zog sich die tigrinische Führung in ihre Heimat, den Norden, zurück. Als ethnische Provinz Tigray hatten sie dort nach wie vor die Kontrolle inne.
Die Spannungen spitzen sich weiter zu als Abiy im September 2020 beschloss, die anstehenden regionalen Parlamentswahlen aufgrund der Corona-Pandemie zu verschieben. Die Verschiebung als illegal bezeichnend, hielten die Tigray ihre Kommunalwahl trotzdem ab. Dies wiederum bezeichnete Abiy als illegal und drehte den Tigray als Konsequenz den Geldhahn zu.
Schliesslich griffen Anfang November 2020 beide Seiten zu den Waffen, wobei sich beide gegenseitig bezichtigten, zuerst mit Kampfhandlungen begonnen zu haben. Daraufhin beorderte Abiy eine militärische Offensive gegen die Tigray-Führung und deren Streitkräfte. Zugleich verkündete er einen sechsmonatigen Ausnahmezustand in der Konfliktregion. Mithilfe von eritreischer Militärunterstützung gelang es der äthiopischen Regierung schliesslich, Mekele, die Hauptstadt Tigrays, sowie andere Städte, einzunehmen. Es folgte einen erbitterter Schlagabtausch, der sich über mehrere Monate hin erstreckte.
Zuletzt konnten die Tigray-Rebellen einige Geländegewinne verzeichnen und in die Nähe der Hauptstadt Addis Abeba vorrücken. Der britische Äthiopien-Experte William Davison der «Organisatoin Crisic Group» hält eine Schlacht um die Hauptstadt durchaus für möglich. In der nördlichen Region Amhara ist der Krieg bereits in vollem Gange. Im Bundesstaat Oroma, welcher die Hauptstadt Addis Abeba umschliesst, hat die TPLF unterdessen Unterstützung in einer weiteren Rebellengruppe gefunden: Der Oromo Liberation Army (OLA). Sollte es nun tatsächlich zum Sturm auf die Hauptstadt kommen, könnte dies den ganzen afrikanischen Kontinent destabilisieren.
Der Konflikt hat sich in der vergangenen Tagen deutlich ausgeweitet. Das Militär musste sich aus wichtigen Städten in der Region Amhara, welche an die Hauptstadt grenzt, zurückziehen. Gemeinsam mit Rebellen der OLA konnte sich die TPLF Zugang zu einer der wichtigsten Autobahnen im Land verschaffen. Sie rückt nun auf Addis Abeba vor. Berichten zufolge sollen die Milizen auch versuchen, die Versorgungsroute von Djibouti nach Addis Abeba zu kappen. Im ganzen Land wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Behörden riefen die Einwohner in Addis Abeba dazu auf, ihre Wohngegenden mit Waffen zu verteidigen.
In einem Facebook-Post hat der Friedensnobelpreisträger, der Äthiopien seit 2018 regiert, alle Bewohner der Hauptstadt Addis Abeba aufgefordert, ihre Alltagsbeschäftigungen sofort niederzulegen «und sich mit allem Möglichen zu bewaffnen, um die TPLF-Terroristen zu begraben».
Translation of Abiy's Facebook post was questioned (I've no idea whether in good faith or not; I long ago lost ability to distinguish ignorance/confusion from disingenuousness) as was lack of context. So I got it checked, and am posting in full.https://t.co/g8QqyvzTC4 pic.twitter.com/VJfQ9qnd3e
— William Davison (@wdavison10) November 2, 2021
Über die letzten Monate hinweg stürzte die äthiopische Bevölkerung zunehmend in eine massive humanitäre Krise. Nebst einer grossen Hungersnot wurde immer wieder von Tötungen, Folter, sexueller Gewalt, Gewalt gegen Flüchtlinge und von der Vertreibung von Zivilisten berichtet. Gemäss der UN sind die Täter ebenso in den Reihen der Streitkräfte Äthiopiens und Eritreas, als auch in jenen von Anhängern der Tigray-Unabhängigkeitsbewegung vorzufinden.
«Der Tigray-Konflikt ist geprägt durch extreme Brutalität», sagte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet. «Die Schwere der von uns dokumentierten Verstösse und Misshandlungen unterstreichen die Notwendigkeit, die Täter auf allen Seiten zur Rechenschaft zu ziehen.» Die Zivilbevölkerung gerate immer wieder zwischen die Fronten der Konfliktparteien, heisst es in dem Bericht.
Es sollen vor allem eritreische Truppen, die sich auf der Seite der äthiopischen Armee am Krieg gegen Tigray beteiligten, für Massenvergewaltigungen und willkürliche Exekutionen verantwortlich sein.
Derweil geht die UNO davon aus, dass bis zu 5,2 Millionen Menschen in der nur schwer zugänglichen Region akut von Hunger bedroht sind. Wegen der Luftangriffe auf die Region musste die UNO ihre eigenen Hilfslieferungen zuletzt grossmehrheitlich einstellen.
Mehr will ich auch gar nicht sagen, da ich nie vor Ort war und keine Hintergründe der Menschen kenne.