Es ist einfach, von Barack Hussein Obama enttäuscht zu sein. Und enttäuschte Liebe tut besonders weh. Exemplarisch dafür ist die Bilanz des schwarzen Philosophen und Bürgerrechtlers Cornel West zur «traurigen Hinterlassenschaft» des ersten schwarzen US-Präsidenten. Sie kommt einer schonungslosen Abrechnung gleich: Obama habe «wieder und wieder versagt».
Die Wut des bekennenden Sozialisten auf Obama und dessen nach seiner Ansicht zu unkritische Anhängerschaft mag ein «Ausreisser» sein. Doch viele, die seine Botschaft von «Hope and change» und «Yes we can!» vor neun Jahren bejubelt hatten, fühlen sich desillusioniert. Während auf der rechten Seite Schadenfreude herrscht. Obama kann nicht hoffen, dass sein Erbe bewahrt und weitergeführt wird. Er muss fürchten, dass es im Schredder landet.
Ist Barack Obama ein Versager? Zumindest hat er die hohen Erwartungen nicht erfüllt. So lautet der Tenor der Rückschauen auf seine Amtszeit, die in den letzten Wochen und Monaten publiziert wurden. Obama habe sehr viel versprochen und wenig geliefert.
Stimmt diese Einschätzung?
Oberflächlich betrachtet könnte man sie teilen. Die Fallhöhe zwischen Anspruch und Realität scheint beträchtlich zu sein. Aber man sollte genauer hinschauen. Ich habe Barack Obamas Weg verfolgt, seit er 2004 am Parteikonvent der Demokraten als Kandidat aus dem Staat Illinois für einen Sitz im US-Senat eine fulminante Eröffnungsrede gehalten hatte. Nur vier Jahre später gelang ihm mit 47 Jahren der Einzug ins Weisse Haus, trotz wenig politischer Erfahrung.
Die USA befanden sich damals auf einem Tiefpunkt, gebeutelt von zwei scheinbar endlosen Kriegen und der schlimmsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Die Nation sehnte sich nach einem Erlöser von den bleiernen Bush-Jahren, und der charismatische, rhetorisch brillante Sohn eines Kenianers und einer weissen Amerikanerin schien dafür die Idealbesetzung zu sein. Er erhielt sogar den Friedensnobelpreis 2009, einzig dafür, dass er Obama war.
Wer mit solchen Vorschusslorbeeren startet, kann fast nur scheitern. Kurz nach seinem Amtsantritt ordnete Präsident Obama die Schliessung des Gefangenenlagers Guantánamo an, ohne Rücksprache mit dem Kongress. Prompt machten ihm die Republikaner und einige Demokraten einen Strich durch die Rechnung. Das «Schandlager» auf Kuba ist noch immer in Betrieb.
Die US-Wirtschaft ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, die Arbeitslosigkeit hat sich von zehn auf fünf Prozent halbiert. Aber der seit Jahrzehnten anhaltende Abbau von gut bezahlten Jobs setzte sich fort und verstärkte die Abstiegsängste des Mittelstands. Die Wall Street, die das Desaster verursacht hatte, wurde von Obamas Regierung viel zu zögerlich angepackt. Kaum ein Banker musste in den Knast. «Too big to jail» wurde zu einem geflügelten Wort.
Aussenpolitisch ragen die Aussöhnung mit Kuba und das Atomabkommen mit Iran heraus. Ob beides Bestand haben wird, muss sich zeigen. Gegen Wladimir Putins Muskelspiele aber konnte und wollte Obama wenig ausrichten. Im Nahen Osten hinterlässt er Probleme ohne Ende, auch weil er nicht mehr den Weltpolizisten spielen wollte. Dafür beschädigte er mit dem Drohnenkrieg gegen echte und vermeintliche Terroristen sein Image als Friedensnobelpreisträger.
Die Drohnenangriffe und die von Edward Snowden aufgedeckte NSA-Bespitzelung werden ihm von links angekreidet. Die Rechten schlachteten den Terroranschlag auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi aus. Insgesamt aber verlief Obamas Präsidentschaft bemerkenswert frei von Skandalen. Zum Glück für ihn, denn so fanden die Republikaner nie einen Vorwand für ein Amtsenthebungsverfahren, das ultrarechte Hardliner gefordert hatten.
Die – auch privat – skandalarmen acht Jahre im Weissen Haus sind Ausdruck zweier Tugenden des Präsidenten: Integrität und Selbstdisziplin. Nicht umsonst erhielt er den Übernamen «No drama Obama». Nie hätte er sich zu Entgleisungen hinreissen lassen, wie sie Nachfolger Donald Trump am laufenden Band absondert. Die Selbstkontrolle hat auch eine Kehrseite, sie mindert die Lust am Risiko. Man hätte sich von Obama manchmal mehr Mut gewünscht.
Hätte er als Präsident aber wirklich mehr erreichen können? Vielleicht hätte er sich in seinen ersten zwei Jahren nicht so stark auf die Umsetzung seiner Gesundheitsreform Obamacare konzentrieren sollen, mit der er die Opposition bis zur Weissglut reizte. Man vergisst dabei aber, dass die Republikaner wild entschlossen waren, Obamas Präsidentschaft zu sabotieren. So hintertrieben sie selbst minimale Verschärfungen der Waffengesetze.
Angesichts der Amokläufe und Massenschiessereien, die in den letzten Jahren stark zugenommen hatten, zeigte Barack Obama immer wieder Emotionen. Aber eigentlich ist er ein Rationalist und ein überzeugter Pragmatiker. Was Stärke und Schwäche zugleich war. Er konnte brillant argumentieren, hatte aber auch einen Hang zu professoralem Dozieren. Wie viele sehr intelligente Menschen neigt Obama dazu, die Kraft des guten Arguments zu überschätzen.
Der Präsident spielte die Rolle des «Erwachsenen im Sandkasten», was auf dem polarisierten Washingtoner Tummelplatz der Eitelkeiten nicht gut ankam. Bei den Republikanern hätte er wohl auch mit einem umgänglicheren Auftreten wenig bewirkt. Bill Clinton, ein ungleich grösseres Talent im Umgang mit Menschen, biss sich an ihnen ebenfalls die Zähne aus. Doch selbst Abgeordnete und Senatoren der Demokraten fremdelten mit «ihrem» Präsidenten.
Obamas vielleicht grösstes Defizit liegt im zwischenmenschlichen Bereich. Es gibt Politiker, die bei öffentlichen Auftritten farblos und hölzern wirken, im persönlichen Gespräch die Menschen aber für sich einnehmen können. Barack Obama ist das Gegenteil. Bei seinen Ansprachen begeistert er die Massen, doch der direkte Umgang mit Menschen, die ihm fremd sind, fällt ihm schwer.
Nie werde ich einen Satz vergessen, den der Watergate-Enthüller und «Washington Post»-Journalist Bob Woodward im Wahlkampf 2012 an einer Veranstaltung in New York geäussert hat: «He doesn't like people» – er mag die Menschen nicht. Obama sei kein Menschenfeind, betonte Woodward, aber er lasse sich nicht gerne mit Leuten ein, die nicht zu seinem Umfeld zählen.
Daraus entstand ein Hang zur Eigenbrötlerei. Bill Clinton oder Ronald Reagan luden am Abend gerne Gäste ins Weisse Haus ein. Barack Obama hingegen verkroch sich nach dem Nachtessen mit der Familie, das ihm «heilig» war, in sein privates Büro, wo er weiter arbeitete, im Internet surfte oder Sportübertragungen am TV schaute.
Mit seiner Abneigung gegen das Socializing machte sich Obama das Regieren selber schwer. Viele Demokraten beklagten sich, dass ihr Präsident sie ignorierte und ihnen auch kein «Goodie» spendierte, etwa eine Einladung ins Weisse Haus oder einen Flug mit der Präsidentenmaschine «Air Force I». Ähnlich erging es ausländischen Besuchern, die sich enorm auf das Treffen mit dem Charismatiker freuten und am Ende von ihm geschäftsmässig abgefertigt wurden.
In der Aussenpolitik erwies sich dieser Wesenszug Obamas als wenig hilfreich. Zu keinem Staats- oder Regierungschef baute er eine persönliche oder gar freundschaftliche Beziehung auf, nicht einmal zu Angela Merkel, angeblich die einzige Persönlichkeit aus diesen Reihen, die er wirklich respektiert. Gerade auf internationaler Ebene aber sind persönliche Beziehungen ein Schlüssel für erfolgreiche Deals. Obama konnte oder wollte das nicht verstehen.
Ist die entzauberte Lichtgestalt also doch gescheitert? So einfach ist das nicht. Er hinterlässt den Eindruck einer unvollendeten Präsidentschaft. Aber bei genauer Betrachtung hat Obama mehr erreicht, als man auf den ersten Blick annehmen könnte, gerade auf psychologischer Ebene:
In vielerlei Hinsicht ist das Glas nicht halb leer, sondern halb voll.
«Man hat oft das Gefühl, dass auf zwei Schritte nach vorne einer zurück folgt», sagte Obama in seiner grossen Abschiedsrede in Chicago. Bei allen persönlichen Defiziten: Seine Präsidentschaft kam vermutlich zu früh. Die Zeit war nicht reif für einen coolen, reflektierten Denker an der Spitze des Landes. Auf längere Sicht aber dürften sich seine Ideen durchsetzen.
Die Zukunft gehört einem neuen, offenen Amerika, das auf der Weltbühne nicht mehr als Dominator agiert, sondern als Partner. Die Akzeptanz der Homo-Ehe und die fortschreitende Cannabis-Legalisierung sind Vorboten dieser Entwicklung. Sie gehört auch einem «bunteren» Amerika, das in wenigen Jahrzehnten nur noch aus Minderheiten bestehen wird. Die «Obama-Koalition», die ihn zu zwei Wahlsiegen getragen hat, war ein Vorgeschmack darauf.
Und je heftiger Donald Trump berserkert, umso mehr werden sich viele nach «No drama Obama» zurücksehnen. Bereits heute ist dies spürbar. Barack Obama wird das Weisse Haus mit einer Zustimmungsquote von rund 55 Prozent verlassen. Die Mehrheit der Amerikaner scheint erkannt zu haben, dass er seinen Job nicht so schlecht gemacht hat. Donald Trump kommt auf 35 Prozent. Nie hat ein Präsident sein Amt mit einer so geringen Akzeptanz angetreten.
Obama hat dem Nachfolger vor seinem Abgang noch einige Knüppel zwischen die Beine geworfen. Im Gegensatz zu George W. Bush, der in den letzten acht Jahren praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, wird er ein aktiver Ex-Präsident sein. Er wird sich hüten, zu stark in die Rolle des Anti-Trump zu schlüpfen. Das ziemt sich nicht für einen ehemaligen Präsidenten. Aber er wird weiter in der Politik mitmischen und seine demoralisierte Partei wieder aufrichten.
Barack Hussein Obama, in Hawaii und Indonesien aufgewachsen, in New York und Chicago sozialisiert, war als US-Präsident eine Ausnahmeerscheinung. Das werden mit der Zeit auch jene realisieren, die heute enttäuscht sind. Die Zukunft dürfte ihn weit positiver beurteilen als die Gegenwart.