Lord Lionel Ismay war ein britischer General und der erste Generalsekretär der nordatlantischen Allianz (NATO). Ihm wird das Zitat zugerechnet, das den Zweck der Nato kurz und bündig wie folgt zusammenfasst: «To keep the germans down and the russians out.» Das mit den Deutschen im Griff haben, hat sich spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer erledigt. Mit dem Krieg in der Ukraine ist jedoch das Bemühen, sich die Russen so weit wie möglich vom Leibe zu halten, so aktuell geworden wie noch nie.
Am kommenden Mittwoch findet in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, der traditionelle NATO-Gipfel statt. Es geht dabei um mehr als um ein traditionelles Treffen alter Freunde. Diesmal geht es um einen für die NATO und vor allem für Europa wegweisenden Entscheid: Sollen, ja müssen wir die Ukraine in den erlauchten Kreis aufnehmen?
Um die Tragweite dieses Entscheids einschätzen zu können, müssen wir kurz zurückblenden.
2008 fand der NATO-Gipfel in Rumänien statt. Der damalige US-Präsident schlug zur Überraschung der anderen Teilnehmer vor, die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine ins Bündnis aufzunehmen. Wegen des missglückten Irak-Abenteuers war Bush jedoch angeschlagen, und die starke Frau Europas, Angela Merkel, fand diesen Vorschlag alles andere als lustig. Er starb den plötzlichen Kindstod.
Ebenfalls in Rumänien anwesend war Wladimir Putin, nur als Gast zwar, aber immerhin. Der russische Präsident war damals noch salonfähig. Anders als die westlichen Staatsoberhäupter reagierte er prompt und heftig auf das Ansinnen des damaligen US-Präsidenten. Nur Wochen nach dem NATO-Gipfel marschierten russische Truppen in Georgien ein und besetzen Gebiete in Südossetien und Abchasien. Immer noch ist dort eine von Moskau gelenkte Marionettenregierung an der Macht.
Nach dem Maidan-Aufstand in Kiew folgte 2014 Putins zweiter Streich. Seine «grünen Männchen» besetzen die Krim. Der russische Präsident liess danach ein Pseudo-Referendum durchführen und behauptet seither kühn, die Krim gehöre zu Russland. Dass mit der Annexion der Halbinsel ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht begangen wurde, wischte der Kreml unter den Tisch.
Auf dem Tisch des NATO-Gipfels in Vilnius ist hingegen die Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine – und so prominent wie noch nie. Zwar wollen alle eine Wiederholung von 2008 vermeiden, aber wie das geschehen soll, ist umstritten. Die Fronten verlaufen aktuell wie folgt: Polen, die baltischen Staaten und Frankreich sprechen sich klar für einen Beitritt aus, erstaunlicherweise auch die Türkei. Das Putin-freundliche Ungarn ist dagegen, die USA zögern, und Deutschland spielt einmal mehr den Hamlet.
Bevor wir auf die Pro- und Contra-Argumente näher eingehen, zwei wichtige Vorbemerkungen: Niemand, selbst Wolodimir Selenskyj, spricht von einem Beitritt, solange der Krieg noch wütet. Und die politische Ausrichtung spielt für einmal keine Rolle. Konservative und Linke sind gleichermassen auf beiden Seiten der Debatte vertreten.
Wie also werden die Staatsoberhäupter am NATO-Gipfel entscheiden? US-Präsident Joe Biden hat klargemacht, dass er zum aktuellen Zeitpunkt einen Beitritt noch für verfrüht hält. Stattdessen stellt er eine Israel-Lösung in Aussicht, will heissen, die NATO verpflichtet sich, der Ukraine militärisch beizustehen, so wie es die USA derzeit mit Israel halten. Nur: Biden hat schon mehrfach gezögert, nur um dann später doch nachzugeben. So geschehen ist dies in der Panzer-Frage und danach mit den F-16 Kampfjets. Soeben hat der US-Präsident auch der Lieferung von umstrittener Streumunition zugestimmt.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass bereits in den kommenden Tagen ein NATO-Beitritt der Ukraine beschlossen wird. Doch angesichts der Tatsache, dass die NATO inzwischen rund 140 Milliarden Dollar Militärhilfe geleistet hat, ist nicht damit zu rechnen, dass man Präsident Selenskyj im Regen stehen lässt. Daran lässt Generalsekretär Stoltenberg keine Zweifel offen: «Die Ukrainer haben auf Generationen heraus ihre Wahl getroffen. Sie teilen unsere Werte. Sie gehören zu uns, zum Westen.»
Ohne Unterstützung der NATO Länder sähe die Situation in der Ukraine ganz anders aus. Da Russland keine Vereinbarungungen langfristig einhalten bleibt auch keine andere Lösung.