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NATO-Beitritt der Ukraine: Ein folgenschwerer Entscheid

KYIV, UKRAINE- JANUARY 27, 2022: NATO - Ukraine Combined Flag | NATO and Ukrainian Truce, Unity, Peace and Defense Relations Concept - 3D Illustration
Die Ukraine will unter der NATO-Flagge kämpfenBild: Shutterstock/watson
Analyse

NATO-Beitritt der Ukraine: Ein folgenschwerer Entscheid

Die nordatlantische Allianz muss einen folgenschweren Entscheid fällen.
10.07.2023, 13:5111.07.2023, 12:29
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Lord Lionel Ismay war ein britischer General und der erste Generalsekretär der nordatlantischen Allianz (NATO). Ihm wird das Zitat zugerechnet, das den Zweck der Nato kurz und bündig wie folgt zusammenfasst: «To keep the germans down and the russians out.» Das mit den Deutschen im Griff haben, hat sich spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer erledigt. Mit dem Krieg in der Ukraine ist jedoch das Bemühen, sich die Russen so weit wie möglich vom Leibe zu halten, so aktuell geworden wie noch nie.

Am kommenden Mittwoch findet in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, der traditionelle NATO-Gipfel statt. Es geht dabei um mehr als um ein traditionelles Treffen alter Freunde. Diesmal geht es um einen für die NATO und vor allem für Europa wegweisenden Entscheid: Sollen, ja müssen wir die Ukraine in den erlauchten Kreis aufnehmen?

FILE - President George W. Bush smiles as he poses for a group photo with military personnel during his visit to U.S. Army Special Operations Command at Fort Bragg, N.C., July 4, 2006. (AP Photo/Pablo ...
Wollte schon 2008 einen Beitritt der Ukraine: George W. Bush.Bild: keystone

Um die Tragweite dieses Entscheids einschätzen zu können, müssen wir kurz zurückblenden.

2008 fand der NATO-Gipfel in Rumänien statt. Der damalige US-Präsident schlug zur Überraschung der anderen Teilnehmer vor, die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine ins Bündnis aufzunehmen. Wegen des missglückten Irak-Abenteuers war Bush jedoch angeschlagen, und die starke Frau Europas, Angela Merkel, fand diesen Vorschlag alles andere als lustig. Er starb den plötzlichen Kindstod.

Ebenfalls in Rumänien anwesend war Wladimir Putin, nur als Gast zwar, aber immerhin. Der russische Präsident war damals noch salonfähig. Anders als die westlichen Staatsoberhäupter reagierte er prompt und heftig auf das Ansinnen des damaligen US-Präsidenten. Nur Wochen nach dem NATO-Gipfel marschierten russische Truppen in Georgien ein und besetzen Gebiete in Südossetien und Abchasien. Immer noch ist dort eine von Moskau gelenkte Marionettenregierung an der Macht.

Nach dem Maidan-Aufstand in Kiew folgte 2014 Putins zweiter Streich. Seine «grünen Männchen» besetzen die Krim. Der russische Präsident liess danach ein Pseudo-Referendum durchführen und behauptet seither kühn, die Krim gehöre zu Russland. Dass mit der Annexion der Halbinsel ein klarer Verstoss gegen das Völkerrecht begangen wurde, wischte der Kreml unter den Tisch.

epa10507605 Relatives, friends, and comrades attend the memorial service for four Ukrainian fighters at Maidan Nezhalezhnosti Square in Kyiv, Ukraine, 07 March 2023 amid the Russian invasion. Four Ukr ...
Gedenkfeier der Opfer des Maidan-Aufstandes.Bild: keystone

Auf dem Tisch des NATO-Gipfels in Vilnius ist hingegen die Frage eines NATO-Beitritts der Ukraine – und so prominent wie noch nie. Zwar wollen alle eine Wiederholung von 2008 vermeiden, aber wie das geschehen soll, ist umstritten. Die Fronten verlaufen aktuell wie folgt: Polen, die baltischen Staaten und Frankreich sprechen sich klar für einen Beitritt aus, erstaunlicherweise auch die Türkei. Das Putin-freundliche Ungarn ist dagegen, die USA zögern, und Deutschland spielt einmal mehr den Hamlet.

Bevor wir auf die Pro- und Contra-Argumente näher eingehen, zwei wichtige Vorbemerkungen: Niemand, selbst Wolodimir Selenskyj, spricht von einem Beitritt, solange der Krieg noch wütet. Und die politische Ausrichtung spielt für einmal keine Rolle. Konservative und Linke sind gleichermassen auf beiden Seiten der Debatte vertreten.

Was spricht gegen einen Beitritt?

  • Artikel 5 des NATO-Vertrages verpflichtet alle Mitglieder – inzwischen sind es 31 – bei einem Angriff auf eines der Mitglieder sofort ebenfalls in den Krieg einzugreifen. Angesichts der Tatsachen, dass Russland eine Atommacht ist, sei daher die Aufnahme der Ukraine ein viel zu grosses Risiko, argumentieren beispielsweise Justin Logan und Joshua Shiferinson in «Foreign Affairs». Beide gehören dem konservativen Thinktank Cato an.
  • Sollte die NATO der Ukraine eine Mitgliedschaft in Aussicht stellen, würde das den Krieg verlängern. Diese Ansicht wird vom linksliberalen Historiker Max Boot geteilt. In der «Washington Post» schreibt er: «Das würde für Russland einen perversen Anreiz darstellen, weiterzukämpfen, um so einen Beitritt zu verhindern.»
  • Für die USA sei die Ukraine strategisch unbedeutend, lautet ein weiteres Argument. Russland würde zwar einen weiteren Hafen am Schwarzen Meer erhalten, wäre aber der NATO weiterhin deutlich unterlegen.
  • Schliesslich geht es auch um sehr viel Geld. Die Ukraine müsste auf den neuesten militärischen Stand gebracht werden, und die Kosten dafür müssten vor allem die USA tragen, sagen Logan/Shiferinson.

Was spricht für einen Beitritt?

  • Russland habe es noch nie gewagt, ein NATO-Mitglied anzugreifen, so verschiedene Befürworter. Hätte man 2008 den Vorschlag von George W. Bush angenommen, wären Putins Truppen weder in Georgien noch in der Ukraine einmarschiert.
  • Die Gefahr eines Atomkrieges oder eines 3. Weltkrieges sei weit übertrieben, und Putin drohe damit ohnehin seit Beginn des Einmarsches seiner Truppen in der Ukraine.
  • Mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würden endlich klare Verhältnisse in Europa geschaffen. Zudem sei das Land heute viel näher bei der NATO als 2008. Jens Stoltenberg, dessen Vertrag als Generalsekretär soeben um ein Jahr verlängert wurde, erklärt daher in der «Financial Times»: «Ich bin überzeugt, dass die Ukraine ein Mitglied der Allianz werden wird, und dass sie auch ein Recht dazu hat. Wir müssen einfach entscheiden, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist.»
  • Margus Tsahkna, der Aussenminister von Estland, verweist auch darauf, dass die Ungewissheit die grösste Gefahr darstellt. «Am gefährlichsten für die russischen Nachbarn ist es, wenn sie im Warteraum ausharren müssen», sagt er. «Genau das war, was vor 15 Jahren mit Georgien und der Ukraine falsch gelaufen ist.»
  • Auch die Kostenfrage kann man ganz anders sehen. Marc Thiessen, ein sehr konservativer Kolumnist der «Washington Post», stellt fest, ohne NATO-Mitgliedschaft sei die Ukraine ein permanenter Magnet für russische Aggressionen. Eine erneute Invasion von Putins Truppen würde den amerikanischen Steuerzahler wieder Dutzende von Milliarden Dollar kosten.
  • Schliesslich wird auch von verschiedener Seite darauf hingewiesen, dass die NATO mit einem Beitritt der Ukraine militärisch gestärkt würde, verfügt das Land doch derzeit über eine effektive, kampferprobte Armee.

Wie also werden die Staatsoberhäupter am NATO-Gipfel entscheiden? US-Präsident Joe Biden hat klargemacht, dass er zum aktuellen Zeitpunkt einen Beitritt noch für verfrüht hält. Stattdessen stellt er eine Israel-Lösung in Aussicht, will heissen, die NATO verpflichtet sich, der Ukraine militärisch beizustehen, so wie es die USA derzeit mit Israel halten. Nur: Biden hat schon mehrfach gezögert, nur um dann später doch nachzugeben. So geschehen ist dies in der Panzer-Frage und danach mit den F-16 Kampfjets. Soeben hat der US-Präsident auch der Lieferung von umstrittener Streumunition zugestimmt.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass bereits in den kommenden Tagen ein NATO-Beitritt der Ukraine beschlossen wird. Doch angesichts der Tatsache, dass die NATO inzwischen rund 140 Milliarden Dollar Militärhilfe geleistet hat, ist nicht damit zu rechnen, dass man Präsident Selenskyj im Regen stehen lässt. Daran lässt Generalsekretär Stoltenberg keine Zweifel offen: «Die Ukrainer haben auf Generationen heraus ihre Wahl getroffen. Sie teilen unsere Werte. Sie gehören zu uns, zum Westen.»

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227 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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maylander
10.07.2023 14:00registriert September 2018
Die Frage ist nicht ob sondern wann.

Ohne Unterstützung der NATO Länder sähe die Situation in der Ukraine ganz anders aus. Da Russland keine Vereinbarungungen langfristig einhalten bleibt auch keine andere Lösung.
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butlerparker
10.07.2023 13:57registriert März 2022
Klare Antwort: Nach Beendigung des Krieges sofort. Klares JA
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Max Dick
10.07.2023 21:12registriert Januar 2017
Im Prinzip spielt es vorerst gar nicht so eine Rolle, ob jetzt Nato-Beitritt oder eine wirkliche Umsetzung des Israel-Models. Gegen eine mit westlichen Waffen hochgerüstete, trainierte ukrainische Armee würde Russland auf absehbare Zeit nicht angreifen. Das grössere Problem ist vielmehr, den jetzigen Krieg zu gewinnen mit möglichst wenig toten ukrainischen Soldaten. Und dafür müsste der Westen wohl nochmals ein neues Tempo mit Waffenlieferungen und Ausbildungen an den Tag legen.
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