Die USA haben in den letzten Jahren einige politische Turbulenzen erlebt. Nun kommt ein neues Kapitel hinzu: Präsident Joe Biden hat am Sonntag seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur bekannt gegeben. Der zunehmend gebrechliche 81-Jährige hat sich der Realität gebeugt, dass er im November kaum eine Chance gegen Donald Trump gehabt hätte.
Historisch ist dies ein einmaliger Vorgang. Noch nie hat sich ein Kandidat zu einem derart späten Zeitpunkt aus dem Rennen genommen. Joe Biden hatte in den Vorwahlen keine ernsthaften Gegner, seine Nomination am Parteitag in Chicago wäre Formsache gewesen. Jetzt muss die Demokratische Partei in Windeseile eine Alternative finden und aufbauen.
Ein Name steht im Vordergrund: Vizepräsidentin Kamala Harris. Joe Biden hat ihr kurz nach der Veröffentlichung seines Rückzugsschreibens seine Unterstützung zugesagt. Am Sonntag drehten sich die Diskussionen etwa auf CNN praktisch nur um ihre Person. Und um die Frage, wen sie als Vize-Kandidaten auswählen könnte.
Es gibt einige nachvollziehbare Vorbehalte gegen Kamala Harris. Ihr Leistungsausweis als Vizepräsidentin ist durchzogen, wobei ihr der Präsident mit der Migrationskrise an der Südgrenze eine «Mission impossible» aufgeladen hatte. Sie gilt als schwierige Chefin und wenig charismatisch. Und dennoch hat die Kalifornierin auch beträchtliche Vorzüge.
Als 59-jährige Frau indisch-jamaikanischer Herkunft bildet sie einen deutlichen Kontrast zum 78-jährigen Donald Trump. Bei den Schwarzen und den Jungen kommt sie in den Umfragen besser an als Joe Biden. Schwächen hat sie bei der weissen Arbeiterschaft, doch die kann sie mit der Wahl des Vizekandidaten (oder einer Kandidatin) ausgleichen.
Der Start am Sonntag ist Harris jedenfalls gelungen, indem sie in ihrem Statement betonte, sie wolle sich die Nomination «verdienen» und nicht ins gemachte Bett legen. Drei Gründe sprechen dafür, warum sie als Präsidentschaftskandidatin faktisch alternativlos ist:
In vier Wochen beginnt der Nominierungs-Konvent der Demokraten in Chicago. Will die Partei eine chaotische Versammlung wie 1968 am gleichen Ort vermeiden, muss sie für klare Verhältnisse sorgen. Das limitiert die Möglichkeiten für ein offenes Rennen, zu dem Barack Obama tendieren soll und das die «Washington Post» in einem Kommentar fordert.
Hätte Biden seinen Verzicht gleich nach der desaströsen Fernsehdebatte am 27. Juni erklärt, wäre genügend Zeit geblieben. Nun ist allenfalls eine virtuelle Abstimmung unter den mehr als 4600 Parteitags-Delegierten möglich. Sie sind im Prinzip frei, doch Kamala Harris hätte einen klaren Startvorteil, auch weil sie mit Biden auf dem Ticket stand.
Und selbst wenn es zu einem Blitzwahlkampf käme, wäre Harris die haushohe Favoritin. Am Sonntag haben ihr diverse prominente Demokraten die Unterstützung zugesagt, von Biden über die Clintons bis zu möglichen Rivalen wie Gavin Newsom und Pete Buttigieg. Auch der Abgeordnete Jim Clyburn, der vor vier Jahren eine Art «Königsmacher» für Biden war, steht hinter ihr.
Bis zur Wahl am 5. November sind es dreieinhalb Monate. In dieser kurzen Zeit müsste die Partei für einen neuen Namen eine Wahlkampf-Infrastruktur aus dem Boden stampfen. Es wäre ein ungeheurer Kraftakt. Kamala Harris hingegen kann Joe Bidens Wahlkampfteam nahtlos übernehmen. Es änderte am Sonntag seinen Namen in «Harris for President».
Mit der Wahlkampfmaschinerie hat Harris auch 96 Millionen Dollar aus Bidens Kasse übernommen. Ganz eindeutig ist die juristische Sachlage nicht, Klagen von republikanischer Seite sind möglich. Aber an eine andere Kandidatur könnte das Geld nicht einfach transferiert werden, das wäre gesetzwidrig. Es müssten «kreative» Wege gefunden werden.
Ohnehin hat Kamala Harris finanziell «Rückenwind». Nach Bidens Debatten-Debakel waren die Spenden an seinen Wahlkampf nahezu versiegt. Nun wurden allein am Sonntag gemäss der «New York Times» mehr als 50 Millionen Dollar gesammelt. Potente Geldgeber wie Reid Hoffman und Alex Soros sind bereit, ihr Portemonnaie für Harris zu öffnen.
Es läuft so gut wie alles auf Kamala Harris hinaus und auf einen Wahlkampf zwischen einer ehemaligen Staatsanwältin und einem verurteilten Straftäter. Ihre Perspektiven sind intakt, aus zwei Gründen. Wer mit Blick auf Hillary Clinton 2016 an ihren Chancen als Frau zweifelt, hat die beiden letzten Jahre seit dem Abtreibungsurteil des Supreme Court nicht mitbekommen.
Die Annullierung des landesweiten Rechts auf den Schwangerschaftsabbruch hat die Frauen in den USA elektrisiert und den Republikanern deftige Niederlagen beschert. Kamala Harris hat dieses Thema genutzt, um ihr Profil zu schärfen. Am Samstag warf sie Trump auf X vor, nach einem Wahlsieg ein nationales Abtreibungsverbot anstreben zu wollen.
Let’s be clear: Donald Trump would sign a national abortion ban and restrict access to contraception if given the chance.
— Kamala Harris (@KamalaHarris) July 20, 2024
That is what’s at stake in November.
We will stop him.
Der Ex-Präsident hat sich in seinem Wahlprogramm davon distanziert, doch die Demokraten werden die Amerikaner und vor allem die Amerikanerinnen daran erinnern, wer die drei ultrakonservativen Richterinnen und Richter ernannt hat, die das Skandalurteil möglich machten. Das Thema Abtreibung ist und bleibt ein Trumpf für die Partei und Kamala Harris.
Ihr bestes Argument aber heisst Donald Trump. Er ist am vorletzten Samstag nur um Haaresbreite dem Tod entgangen. Viele Menschen würde dies nachdenklich machen, doch Trump ist dafür viel zu narzisstisch. Schon während seiner als «versöhnlich» angekündigten Nominationsrede am Parteitag der Republikaner in Milwaukee fiel er immer wieder in die alte Rolle zurück.
Seine Reaktion auf Joe Bidens Rückzug und die folgenden Rundumschläge kann man nur als primitiv und würdelos bezeichnen. Während der Präsident nach dem Attentat sein Mitgefühl zeigte, geifert Trump gegen ihn und Kamala Harris. Er sorgt damit selbst dafür, dass sein Märtyrer-Image samt ikonischem Foto bis zur Wahl im November verblassen wird.
Dafür werden sich die Amerikaner daran erinnern, warum sie ihn vor vier Jahren in die Wüste geschickt hatten. Das alles spielt Kamala Harris in die Hände. Sie mag keine «perfekte» Kandidatin sein, aber sie hat das Zeug, die erste US-Präsidentin zu werden.
Das spricht auch nicht unbedingt für Trump.
Harris for President!