1904 veröffentlichte der Schriftsteller Joseph Conrad sein Meisterwerk «Nostromo». Er handelt von einem fiktiven südamerikanischen Land und zeigt auf deprimierende Art auf, wie dieses Land zwischen Sozialismus und Kapitalismus zerrissen wird und dabei zugrunde geht.
Argentinien folgt diesem Muster bis heute. Das Land wechselt ab zwischen libertärem Kapitalismus und Peronismus, einer pervertierten Art von Sozialismus, genannt nach dem legendären Präsidenten Juan Peron und seiner Frau, «Dont't cry for me Argentina»-Evita. Dazwischen kann auch mal, wie dies von 1976 bis 1983 der Fall war, eine brutale Militärdiktatur an der Macht sein.
In den Neunzigerjahren hatten die Ultrakapitalisten das Sagen. Unter dem eitlen Präsidenten Carlos Menem führte Argentinien ein sogenanntes Currency Board ein, will heissen: Der Pesos wurde fix an den Dollar gebunden. Damit wurde zwar der grassierenden Inflation Einhalt geboten. Gleichzeitig waren jedoch die sozialen Folgen verheerend. Der grösste Teil der 42 Millionen Menschen stieg in bitterste Armut ab, und das in einem Land, das mit natürlichen Schätzen reichlich gesegnet ist und das bis zum Zweiten Weltkrieg zu den sechs reichsten Nationen der Welt gehört hatte.
Das ultraliberale Experiment mit dem Currency Board hinterliess tiefe Spuren. Argentinien konnte seine Auslandsschulden nicht mehr begleichen und meldete Staatsbankrott an. Weil private Investoren das Land meiden, wird es mit Krediten des Internationalen Währungsfonds mehr schlecht als recht über Wasser gehalten.
Nach Menem kamen wieder die Peronisten an die Macht. Zuerst Nestor Kirchner, dann dessen Ehefrau Christina Fernandez. Zwischen 2015 und 2019 hatte der konservative Mauricio Macri ein Gastspiel, ehe dieser vom Peronisten Alberto Angel Fernandez abgelöst wurde. Keiner dieser Regierungen gelang es, die Wirtschaft Argentiniens zu sanieren. Derzeit liegt die Inflation weit über 100 Prozent.
Trotz gewonnener Fussballweltmeisterschaft ist die Stimmung im Land daher mies. «Die Dauerkrise hat zu einem völligen Verlust des Vertrauens in die Institutionen geführt», zitiert die NZZ den Argentinien-Experten Carl Moses. «Es ist eine frustrierte Gesellschaft, die orientierungslos in die Zukunft sieht.»
Auftritt Javier Milei, ein 52-jähriger ehemaliger Rockmusiker und libertärer Ökonom. Er hat im August überraschend die Primärwahlen gewonnen und geht nun als Favorit in die Präsidentschaftswahlen im kommenden Oktober.
Mileis Markenzeichen sind seine fünf Hunde. Einer heisst Milton, benannt nach dem neoliberalen Übervater Milton Friedman. Eine zweiter heisst Murray, benannt nach dem amerikanischen Ökonomen Murray Rothbard. Dieser gilt zusammen mit der Schriftstellerin Ayn Rand und dem österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises als Ikone der «Anarcho-Kapitalisten», dem libertärsten Flügel der Libertären.
Mileis Programm entspricht denn auch dem klassischen Handbuch der Libertären: Er will die altersschwachen Staatsbetriebe privatisieren und schon im ersten Jahr das Staatsdefizit auf null senken. Trotz der katastrophalen Erfahrungen mit dem Currency Board will Milei das Experiment wiederholen, und zwar in verschärfter Form. Er will den Peso nicht an den Dollar binden, er will ihn abschaffen und durch den Greenback ersetzen. Damit wird auch die argentinische Nationalbank überflüssig und folgerichtig gestrichen, genauso übrigens wie viele andere staatliche Institutionen und Ämter, ganz speziell das Umweltamt, denn Milei hält die Klimaerwärmung für Einbildung.
Eine «Dollarisierung» der Wirtschaft würde zwar die Inflation schlagartig beseitigen, doch zu einem hohen Preis. Argentinien könnte nicht mehr über seine Geldpolitik bestimmen und wäre vollkommen der amerikanischen Notenbank ausgeliefert. Der Dollar wäre zudem für die argentinische Wirtschaft viel zu stark und würde die eh schon sklerotische Wirtschaft weiter schwächen. Dazu kommt ein banales Problem: Milei hätte grösste Mühe, die notwendige Menge von Dollars zusammenzukratzen.
Libertäre treten in der Regel mit pathetischen Sprüchen von Freiheit und markigen Sprüchen gegen den Staat und Sozialismus auf. Milei ist da keine Ausnahme. Der Staat sei «nichts anderes als organisiertes Verbrechen», so Milei, «weshalb soll ich ihn anders behandeln»?
Die Grenze zwischen Libertären und Rechtsextremen ist durchlässig. So ist in den USA Rand Paul, der einst libertäre Senator aus dem Bundesstaat Kentucky, mittlerweile am äussersten Rand der Republikaner zu finden, ebenso Vivek Ramaswamy, die neue Hoffnung der Grand Old Party. Der Financier Peter Thiel hat als Libertärer begonnen, bevor er sich zum erzkatholischen Konservativen gewandelt hat. Elon Musk ist auf bestem Weg dahin.
Schon Mileis Vorbild Murray Rothbard hat diesen Gesinnungswandel vorgeführt. In seiner Jugend hatte er sich für sexuelle Freiheit starkgemacht. Später sah er Familie und Kirche als Bollwerk gegen den Staat und Sozialismus. Das sieht auch der mögliche neue Präsident Argentiniens so. Er will die Abtreibung verbieten und das Tragen von Waffen erlauben; und er hegt eine grosse Bewunderung für Brasiliens Rechtspopulisten Jair Bolsonaro.
Wenn er von der Periode der Militärdiktatur spricht, dann betont Milei die angeblichen Verbrechen der linken Guerilla, die «blutiger gewesen sei» als die Generäle und ihre Schergen. Sein Kandidat als Vize ist ein Anwalt, der Soldaten verteidigt hat, die unter den Militärs Gräueltaten begangen hatten.
Der Ökonom Simon Kuznets, der Vater des Bruttoinlandprodukts, hat einst erklärt, es gebe normale Volkswirtschaften – und Japan und Argentinien. Was Argentinien betrifft, scheint er einmal mehr recht zu bekommen.
Wenn man meint, es gäbe schon durchgeknallte potenzielle Präsidenten, dann kommt nochmals einer, der die vorhergehenden in den Schatten stellt!
Ich hab ja keine Ahnung von brasilianischer Politik aber , mol mol , der sieht schon so aus als ob er den Karren aus dem Dreck ziehen kann. 🤦♀️
Was der von sich gibt klingt wie ein Universalrezept um ein Land zu ruinieren. Jedes Land.
Ich kann es nicht fassen das so jemand für ein solches Amt auch nur in Erwägung gezogen wird.