Analyse
Wenn politische Kontrahenten die Realität nach ihrem Gusto umdeuten, muss der Reporter Richter sein.
13.09.2018, 12:1314.09.2018, 06:31

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Ein 22-jähriger irakischer Asylbewerber ersticht am Stadtfest in Chemnitz mutmasslich einen 35-jährigen deutschen Familienvater. Der Asylbewerber ist mehrfach vorbestraft und hätte bereits abgeschoben sein müssen.
In der Woche darauf mobilisierten Gruppierungen wie die AfD, Pegida, die rechtsextreme Pro Chemnitz oder die Hooligan-Gruppierung Kaotic Chemnitz Kundgebungen mit teils mehreren tausend zumeist unauffälligen Teilnehmern, die ihrem Unmut über die für ihren Geschmack zu lasche Asylpolitik der Regierung Merkel Luft machen wollen.
«Adolf-Hitler-Hooligans»
Die Reportage von der grössten Kundgebung am 1. September und das zugehörige Editorial von «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel zeichnen das Bild einer sächsischen Bevölkerung, die wütend, aber friedlich gegen eine Übervorteilung durch Berlin protestiert und wegen vereinzelter Neonazis von ebenjener Regierung und den Weltmedien unfairerweise als «Nazi»-Bundesland abgestempelt werde.
In Reportage und Editorial ausgelassen oder gar bestritten sind per Video und Foto mehrfach gut dokumentierte Angriffe auf Migranten, Journalisten und Polizisten, das Zeigen des Hitler-Grusses und anderer verfassungswidriger Symbole sowie Parolen wie «Wir sind die Fans – Adolf-Hitler-Hooligans», «Ausländer raus!» oder «Nationaler Sozialismus – Jetzt».
Diese antidemokratischen Auswüchse der straff organisierten rechtsradikalen Kräfte in Sachsen sind in der Chemnitz-Reportage der «Weltwoche» ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass die AfD hinsichtlich der bevorstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen ein vitales Interesse daran hat, mit dem Asylthema Wähler von CDU und CSU abzuwerben. Ebensowenig ist erwähnt, dass in Sachsen das Mordkommando NSU auch dank der Nachlässigkeit der Behörden zu lange unbehelligt operieren konnte. Und auch nicht erwähnt ist, dass ein Mitarbeiter im Justizvollzug den Haftbefehl gegen einen der Tatverdächtigen vom 26. August fotografiert und Pro Chemnitz zu Propagandazwecken zur Verfügung gestellt hatte.
Kleinster gemeinsamer Nenner der Debatte
Diese Fakten einfach wegzulassen, macht den thukydideischen Effort des «Weltwoche»-Chefredaktors, sich vor Ort und in allen Lagern über die Geschehnisse zu informieren, weitgehend zunichte. Jedenfalls dann, wenn man unter journalistischer Arbeit eine Tätigkeit versteht, die es einer demokratischen Bevölkerung ermöglichen soll, einen lösungsorientierten Diskurs zu Problemen und Herausforderungen ihrer Zeit zu führen.
Dies ist nur dann möglich, wenn die Realität der kleinste gemeinsame Nenner der Diskussion ist. Was passiert, wer macht was, cui bono und was sind Rahmenbedingungen und Vorgeschichte?
Nur wenn darüber ein Mindest-Konsens herrscht, können wir politische Debatten führen, Deutungen der Geschehnisse verargumentieren und Haltungen dazu nachvollziehbar vermitteln beziehungsweise verstehen und uns selbst eine Meinung bilden.
Erst die Beweise, dann das Urteil
Im derzeitigen politischen Klima, in dem die Kontrahenten selbst gut dokumentierte Sachverhalte glatt leugnen, nach ihrem Gusto umdeuten, «alternative Fakten» präsentieren und den Rest als «Fake News» abtun, kommt die Aufgabe des Reporters oder des Chefredaktors im Feld derjenigen des Richters nahe:
Erst vollständige Beweisaufnahme, dann Beurteilung des Sachverhalts.
Diese Analyse erschien unter dem Label Gegenrede zuerst in der «Weltwoche» vom 13.9.2018.
Rechtsextreme in Chemnitz bedrohen Journalisten
Video: watson/felix huesmann, lia haubner, marius notter
Demonstrationen im Chemnitz 1.9.2018
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Demonstrationen in Chemnitz 1.9.2018
Rund 4500 Menschen nahmen an einem gemeinsamen Marsch der AfD und des ausländerfeindlichen Bündnisses Pegida teil.
quelle: dpa-zentralbild / ralf hirschberger
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