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Fête nationale an der Côte d’Azur: Die Grande Nation feiert sich selbst, die Menschen stehen bei angenehmen 23 Grad an der Uferpromenade in Nizza. Dann beginnt das Grauen.
Mohamed Lahouaiej Bouhlel drückt aufs Gaspedal, steuert seinen 19 Tonnen schweren Truck in die Menschenmenge, tötet Frauen, Kinder, Alte – bis er selbst gerichtet wird.
Der Mann wurde 1985 in Msaken in Tunesien geboren. Schon seine Eltern emigrierten nach Frankreich, berichtet BBC. Bouhlel heiratet, bekommt mit seiner Frau drei Kinder, die in Frankreich geboren worden sein dürften, aber lebt zuletzt mit der Frau nicht mehr zusammen.
Bouhlel bringt 84 Unschuldige um.
Warum?
Der Attentäter von Nizza wandelt auf den Spuren der Mörder, die am 7. Januar 2015 in die «Charlie Hebdo»-Redaktion in Paris eingedrungen sind, die am 9. Januar 2015 in der Hauptstadt in einem jüdischen Supermarkt vier Geiseln töteten und die am 13. November in mehreren Arondissements 130 Leben auslöschten.
Der Anschlag von Nizza reiht sich in diese Liste beinahe nahtlos ein. Nicht nur, weil auch dort für mehrfachen Mord der Name Allahs missbraucht wurde, sondern auch, weil sich alle Bluttaten gegen eine Gesellschaft richten, die auch auch ihre sein sollte.
Ein Land, in das Eltern oder Grosseltern einst aus Nordafrika einwanderten. In dem sie selber aufgewachsen sind (siehe Bildstrecke) oder in dem – wie im Fall von Bouhlel – die eigenen Kinder gross werden.
Der Terror ist also – und diese Erkenntnis tut weh – zumeist hausgemacht. Es bleibt jedoch die Frage: Warum?
Für die Radikalisierung dieser Männer gibt es vier Gründe. Keiner davon entschuldigt oder rechtfertigt die Taten, sondern sie erklären bloss deren Entstehung.
«Warum trifft es immer wieder Frankreich?», fragen die Menschen, als die Schreckensnachricht aus Nizza eintrifft. Und wohl im Vergleich zur US-Aussenpolitik heisst es mitunter: «Die Franzosen machen doch gar nichts!?»
Au contraire! Frankreich war im Nahen Osten und Nordafrika stets aktiv – und ist es heute noch. Jahrzehntelang hat die frühere Kolonialmacht die Politik von Ländern wie Marokko, Tunesien oder auch Algerien bestimmt, was in letzterem Fall in einem langen, blutigen Bürgerkrieg endete. Paris hat die Landkarte Arabiens mit zu verantworten – inzwischen wissen wir, dass die Grenzziehung von damals der Grundstein der Konflikte von heute ist – siehe Syrien.
Und die Nation will «grande» bleiben: Als Muammar al-Gaddafi ins Visier der internationalen Gemeinschaft geriet, war Paris neben London unter den Ersten, die «Luftschläge» gegen Libyen forderten – und durchführten. Auch in Afrika sieht sich das Land immer noch als Ordnungsmacht, wie sich in Mali zeigt, wo Präsident Hollande die Regierung militärisch im Kampf gegen islamistische Separatisten unterstützt.
Nicht zuletzt um von innenpolitischen Problemen abzulenken, mischt sich Frankreich aussenpolitisch ein. Für einen Islamisten ist Paris damit Teil einer Front, die seit der Kolonialzeit islamische Länder bekämpft und unterdrückt. Denn Islamisten suchen stets die Schuld bei anderen – und niemals bei sich selbst, bei der Spaltung unter den Muslimen, der Unfähigkeit zu Reformen oder der Korruption der Machthaber (siehe Kontext).
Wenn die verfehlte Integration zur Sprache kommt, verdrehen viele die Augen. Mitunter wird gar mit Wut reagiert – so nach dem Motto:
«Jetzt kommen wieder diese Gutmenschen, und wir sollen schuld daran sein, dass so ein irrer Mullah mordet? So nicht!!! Mit Ali vom Gemüseladen um die Ecke verstehe ich mich schliesslich auch blendend, und der hat sich ja auch anpassen können!»
Darum geht es nicht.
Es geht darum, dass es eine grosse Zahl von Menschen gibt, die zu einer Minderheit gehören – und die Minderheit bleiben. Eine, die sozial abgehängt ist, wie der Film «La Haine» schon 1995 eindrücklich aufgezeigt hat. Es ist die Geschichte dreier Freunde in den Trabantenstädten von Paris.
Das Trio hat unterschiedliche Religionen, kommt aus verschiedenen Ländern – und erinnert daran, dass der Konflikt kein religiöser ist, sondern vor allem ein sozialer. Es geht um Armut, Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe: Was da vor gut 20 Jahren thematisiert wird, gilt auch für die Attentäter von heute.
Diese sind Menschen, die sich mit dem Staat, in dem sie leben, in keinster Weise identifizieren können. Nur deshalb können sie derart herzlos morden, im Bataclan fröhliche Konzertbesucher erschiessen oder mit einem Laster feiernde Franzosen überfahren. Weil sie das Gefühl haben, mit unserer Gesellschaft nicht auch nur das Geringste zu tun zu haben.
Die Gründe für diese derart gescheiterte Integration sind vielfältig – und Fehler wurden auf beiden Seiten gemacht. Aber wer das Thema als Larifari-Sozialromantiker-Argumentation abtut, wird die Auslöser für ein Blutbad wie das von Nizza nie verstehen.
Eine weitere Ursache ist nicht nur die fehlende Integration in der neuen Heimat, sondern auch Ablehnung in der Kultur, in der jene Menschen ihre «Wurzeln» haben, wie man heutzutage sagt. Islamwissenschaftler Marwan Abou-Taam, ein Berater der deutschen Polizei, sagte es im «Handelsblatt» so:
«Diese dritte Generation ist am meisten betroffen, da sie sowohl von den Eltern Zurückweisung erfährt, als auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft – den Eltern sind sie nicht türkisch oder arabisch genug, von den Deutschen werden sie trotzdem oft wie Fremde behandelt.»
Um beim Beispiel Deutschland zu bleiben: Die ersten Einwanderer sind «Gastarbeiter» – und wer Gast ist und bald wieder geht, bekommt (und nimmt) auch keinen Deutschkurs. Ihre Kinder spielen dann die Dolmetscher, und auch die zweite Generation ist noch vom Herkunftsland der Grosseltern geprägt, so Abou-Taam.
Die dritte Generation, aus der sich auch fast alle französischen Attentäter rekrutieren, ist schliesslich ohne Wurzeln – in Frankreich kein Franzose, in Tunesien kein Tunesier – und deshalb für Rattenfänger leichte Beute: Die Identität stiften dann die Radikalen.
Fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, gesellschaftliche Ablehnung, bescheidene Bildung und soziale Armut münden oft genug in Kriminalität. Kaum ein Attentäter in Frankreich hatte eine weisse Weste:
Diesen Menschen präsentieren sich Islamisten als «rettender Anker» – auch in Deutschland, erklärt Abou-Taam. In Metropolen wie Paris oder Berlin gebe es «eine sehr starke Überschneidung zwischen dem Salafismus und kriminellen Milieus».
Warum sich Verbrechen und Religion nicht widersprechen, verdeutlicht der französische Experte Gilles Kepel in der NZZ: «Man kann ohne weiteres gleichzeitig Salafist und Drogendealer sein – weil man damit die Existenz von Ungläubigen zerstört. Man kann auch Frauengeschichten haben, der Zweck heiligt die Mittel. In der Logik des Jihad ist alles erlaubt, um den Feind täuschen zu können.»
Hinweis: SRF 2 Kultur sendet am 18. Juli um 9 Uhr ein Feature über tunesische Jihadisten.