Die Demonstranten hatten sich aus Solidarität mit der regierungskritischen Zeitung «Zaman» in Istanbul vor deren Redaktionsgebäude versammelt, wie ein AFP-Reporter berichtete. «Die freie Presse kann nicht zum Schweigen gebracht werden», riefen sie.
Viele hielten die Samstagsausgabe des Blattes mit dem Titel «Die Verfassung ist ausgesetzt» hoch. Die Zeitung hatte die Ausgabe am Freitag noch produzieren können, bevor kurz vor Mitternacht die Polizei die Redaktion besetzte. Dabei setzte die Polizei ebenfalls Wasserwerfer und Tränengas ein, um Unterstützer auseinanderzutreiben.
Neben der Zeitung «Zaman» stellten die türkischen Behörden auch die englische Ausgabe «Today's Zaman» sowie die Nachrichtenagentur «Cihan» unter ihre Kontrolle. Regierungschef Ahmet Davutoglu rechtfertigte das staatliche Vorgehen unter dem Verweis auf einen Umsturzversuch. Es handle sich um ein Justizverfahren, in das die Regierung nicht eingegriffen habe.
Staatlichen Medien zufolge wurde der Schritt von der Staatsanwaltschaft angeordnet, die gegen den regierungskritischen Geistlichen Fethullah Gülen wegen Terrorismus-Vorwürfen ermittelt. Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt den im Exil in den USA lebenden Gülen, ein Unterstützernetz in Justiz, Polizei und Medien aufzubauen und seine Regierung zu Fall bringen zu wollen. «Zaman» gehört zu Gülens Hikmet-Bewegung. Diese wurde in der Türkei zu einer «terroristischen Vereinigung» erklärt.
Das harte Vorgehen der türkischen Behörden gegen die regierungskritische Zeitung sorgte international für Entrüstung. «Die Türkei ist dabei, eine historische Chance der Annäherung an die Europäische Union zu verspielen», sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz dem «Tagesspiegel am Sonntag».
Schulz kündigte an, die Erstürmung der Redaktion direkt vor dem EU-Gipfel am Montag beim türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu anzusprechen. Die Türkei sei für die EU ein wichtiger strategischer Partner, sagte Schulz auch mit Blick auf die Flüchtlingskrise.
Es könne für sie allerdings «keinen Rabatt» geben. Es sei klar, dass «die EU bei der Einhaltung ihrer Grundwerte keine Abstriche machen wird». Auch die USA kritisierten die Entscheidung der türkischen Behörden, die auflagenstärkste Zeitung des Landes unter staatliche Kontrolle zu stellen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im deutschen Bundestag, der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen, verurteilte das Vorgehen der türkischen Staatsführung als schweren Schlag gegen die Pressefreiheit.
Der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, türkische Menschenrechtsverletzungen nicht mehr absichtlich zu übersehen und endlich Kritik zu äussern. Die deutsche Regierung erklärte, sie äussere sich zu innenpolitischen Vorgängen in der Türkei grundsätzlich nicht öffentlich. Amnesty International erklärte, die Türkei walze die Menschenrechte nieder, indem sie versuche, kritische Stimmen zu unterdrücken. (wst/sda/reu/afp/dpa)