Die kleineren Parteien wollen nicht warten, bis das Telefon klingelt. Während bei früheren Wahlen immer die stärksten Parteien die sogenannten Sondierungsgespräche anstiessen, wollen FDP und Grüne es dieses Mal selbst in die Hand nehmen.
Die Logik, «da ist einer, der alle anderen anruft» tue dem nötigen Aufbruch in diesem Lande nicht gut, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock am Wahlabend in der sogenannten Elefantenrunde von ARD und ZDF – und bekam sogleich Unterstützung von der FDP: Es könne «ratsam» sein, dass die Parteien, die gegen den Status quo gekämpft haben, nun zuerst miteinander sprechen, sagte deren Chef Christian Lindner.
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Die Nachricht an SPD und Union, die im neuen Bundestag die stärksten Fraktionen stellen, ist klar: Wer von euch den Kanzler stellt, entscheiden wir. Welchen Weg Deutschland nun also einschlägt, hängt von FDP und Grünen ab. Sie sind die Kanzlermacher.
Das Problem dabei: Beide Parteien präferieren das jeweils andere Bündnis – zumindest auf dem Papier. Hört man aber genau hin, scheinen sich Liberale und Ökos schon am Wahlabend zu bewegen.
Es ist eine Mischung aus Freude und Enttäuschung, mit der die Grünen auf ihr Wahlergebnis blicken. «Trotz der Zuwächse kann ich mich jetzt nicht so gigantisch freuen», sagte etwa Michael Kellner, der Bundesgeschäftsführer der Grünen. Auch Anton Hofreiter wurde deutlich: «Wir freuen uns, auch wenn wir mehr erwartet hätten.»
Für die Grünen ist es ein paradoxes Ergebnis. Sie bleiben mit 15 Prozent zwar weit hinter ihren Erwartungen zurück, holen aber das beste Ergebnis in ihrer Geschichte. «Historisch» ist das Wort, das am Wahlabend am häufigsten fiel.
Eine Fehleranalyse? Ja, die soll es geben, heisst es aus der Partei. Etwas anderes aber stehe nun im Vordergrund: Die Wähler haben den Grünen einen klaren Regierungsauftrag gegeben, lautet die Interpretation des Wahlergebnisses bei den Grünen. Den will die Partei nun unbedingt umsetzen.
Grosser Jubel bei den Grünen - 15 Prozent laut erster ARD-Prognose. pic.twitter.com/TF3XYGYbkf— Camilla Kohrs (@cckohrs) September 26, 2021
Für Selbstzweifel oder gar eine Personaldebatte ist also keine Zeit. Die Grünen wollen wie auch schon in den letzten Monaten Einigkeit demonstrieren. «Wir wollen und werden jetzt geschlossen in Koalitionsverhandlungen gehen», sagte etwa die Bundestagsabgeordnete Katharina Dröge t-online. Parteichefin Annalena Baerbock stimmte die Partei am Wahlabend auf der Bühne bereits ein: «Dieses Mal hat es noch nicht gereicht, aber wir haben einen Auftrag für die Zukunft.» Das Land brauche nun eine Klimaregierung.
Damit stecken die Grünen ihre Verhandlungslinie ab: Von ihren künftigen Koalitionspartnern erwarten sie starke Zugeständnisse beim Thema Klimaschutz. Was die Wunschpartner angeht, hält man sich offiziell noch bedeckt: «Wir sprechen mit allen demokratischen Parteien», ist die grüne Standardantwort.
Erst auf Nachfrage rückten am Wahlabend zumindest einige mit dem – eigentlich – Offensichtlichen heraus: «Wir stehen der SPD inhaltlich natürlich näher», sagte Hofreiter. Auch Katharina Dröge betonte im Gespräch mit t-online: «Aus meiner Sicht hat die CDU die Wahl verloren, ein Grossteil der Deutschen findet auch nicht, dass Laschet Kanzler werden soll.» Sie sehe nun eher den Auftrag, eine Koalition unter SPD-Beteiligung anzustreben.
Die Option einer Jamaika-Koalition schliesst derzeit dennoch niemand aus. Lieber weisen die Grünen darauf hin, dass die bevorstehenden Verhandlungen sehr schwierig werden. Oder wie Jürgen Trittin am Wahlabend sagte: «Ich würde jetzt noch keine Wette abgeben, wer die Neujahrsansprache hält.»
Auch die FDP schaut nach eigenen Aussagen auf einen «historischen Abend» zurück. Nach dem zweiten zweistelligen Ergebnis in Folge, gehe es jetzt um einen «Aufbruch». Gar von einer «neuen Welt» war am Wahlabend die Rede. Allein: Gelingt das besser in einem Bündnis mit den Grünen und der SPD – oder in einer Jamaika-Koalition?
Noch bis um 18 Uhr die ersten Prognosen über die Bildschirme flimmerten, schien sich diese Frage kaum zu stellen. Die Drohkulisse eines Linksbündnisses zeichnete sich zu deutlich ab. Viele Liberale sahen sich vorab fast gezwungen, eine Ampel-Koalition anzustreben, nur um «R2G» zu verhindern.
Grosser Jubel bei der #FDP. #btw21 pic.twitter.com/D6mP1ROWlu— Florian Schmidt (@fls_news) September 26, 2021
Fast noch grösser als über das eigene Abschneiden war dann auch der Jubel über das schwache Ergebnis der Linken. «Wir sind nicht mehr erpressbar», lautete in der Folge ein Satz, der in Gesprächen mit Parteimitgliedern immer wieder fiel. «Jamaika ist sehr viel wahrscheinlicher geworden», sagte am Montagmorgen auch der Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle in der Livesendung von t-online.
Doch ganz so einfach ist es nicht, das wissen auch die Liberalen. Zwar betonen alle, dass die inhaltlichen Überschneidungen mit der Union deutlich grösser seien als mit der SPD – vor allem in der Finanzpolitik, wo die FDP Steuererhöhungen ablehnt und auf das Einhalten der Schuldenbremse drängt. Die Wunschkoalition, nicht zuletzt auch der überwiegenden Mehrheit der FDP-Wähler, ist deshalb ein Jamaika-Bündnis. Eigentlich.
Denn gleichzeitig schwang am Wahlabend auch Enttäuschung über die Union mit, bei genauem Hinhören sogar ein bisschen Häme. «Manche haben explizit gegen die FDP Wahlkampf geführt. Insbesondere jene, die uns eigentlich inhaltlich näher stehen», sagte Christian Lindner in seinem ersten Statement. Die Botschaft ist klar: Wir, die FDP, sind eigenständig. So gut Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen regiert – in Rheinland-Pfalz funktioniert die Ampel-Koalition ebenfalls.
Hinter vorgehaltener Hand bezweifeln führende Liberale zudem, dass sich mit der Union auf absehbare Zeit überhaupt Staat machen lässt. Von einer «Trümmertruppe ohne Kompass» ist die Rede, von einem «Scherbenhaufen», den Armin Laschet erst einmal zusammenkehren muss.
Hinzu kommt: Im direkten Vergleich halten die meisten Deutschen Olaf Scholz für den besseren Kanzler. Eine Regierung gegen diesen Wunsch zu bilden – das dürfte schwierig werden. Gleichwohl will sich niemand festlegen, alles sei offen, alles möglich, wie auch Alexander Graf Lambsdorff betonte: «Wir werden jetzt mit allen demokratischen Parteien reden.»
Grüne und FDP gemeinsam in einer Regierung ist natürlich keine Wunschhochzeit, das ist auch den Verantwortlichen bewusst. Unabhängig vom Kanzler scheinen beide Parteien jedoch pragmatisch auf ein gelb-grünes Bündnis zu blicken. Es gebe Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten, urteilen beide Parteien einhellig übereinander.
Was sie schon jetzt eint: Die jungen Wähler können sie am meisten begeistern. Die FDP führt bei den Erstwählern, die Grünen bei den Unter-30-Jährigen. Die einstigen Kleinparteien, so das selbstgewählte Narrativ, verkörpern den Aufbruch, die Zukunft – während SPD und Union für ein «Weiter so» stünden. Mit diesem Selbstbewusstsein gehen sie nun in die Verhandlungen: Sie wollen etwas geboten bekommen.