Es gibt einen Witz über Karl Lauterbach, der erahnen lässt, weshalb Bundeskanzler Olaf Scholz mit sich gerungen hat, den promovierten Dr. med. zu seinem Gesundheitsexperten zu ernennen. Karl Lauterbach, so beginnt der Witz, trifft auf der Strasse einen kleinen Jungen. «Wie alt bist du?», fragt Lauterbach. «Acht», entgegnet der Junge keck. Worauf Lauterbach meint: «In deinem Alter war ich schon neun!».
Lauterbach gilt als Einzelkämpfer, Besserwisser und Exzentriker. Der Ober-Mahner und Dauergast in Talkshows nervte mit seinen apokalyptischen Coronaprognosen und seinen mantraartig vorgetragenen Aufrufen für Lockdowns, Kneipenschliessungen und Ausgangssperren manch eine Parteigenossin, manch einen Parteigenossen. Und vermutlich regte sich auch Neu-Kanzler Scholz selbst gelegentlich über den etwas vorlauten Parteigenossen auf.
Doch der Hanseate hatte keine Wahl, er musste Lauterbach bei der Ressortvergabe berücksichtigen. Schliesslich ist der Gesundheitsökonom und Epidemiologe aus den eigenen Reihen der Experte für Gesundheitsfragen schlechthin. Wie wäre das angekommen, hätte Scholz «Mister Corona» einfach übergangen?
Druck übte nicht zuletzt die Twittergemeinde aus. Unter dem Hashtag #wirwollenkarl warb die Community für den Gesundheitsminister Lauterbach. Dass Lauterbach ausgerechnet bei Twitter so viel Support erfährt, ist keine Überraschung. Via den Kurznachrichtendienst feuert Lauterbach seine Erkenntnisse und Mahnungen seit Beginn der Pandemie in die Welt hinaus. Heute hat er über 830'000 Follower. Kanzler Olaf Scholz hat 350'000.
Nun führt der Vater von fünf Kindern, der aus einer Arbeiterfamilie entstammt, eines der wichtigsten Ministerien in der deutschen Ampel-Regierung. Zu Amtsantritt sagte er:
Lauterbach wird seinen Beitrag leisten, dass Deutschland einigermassen glimpflich durch die Omikron-Welle durch steuert. Das liegt auch an seiner hohen Kompetenz als Gesundheitsexperte, aber auch seiner Authentizität als Privatperson. Lauterbach ist Vegetarier und verzichtet auf Salz in seinen Mahlzeiten, als Geniesser, der auch gerne mal einkehrt und in Gesellschaft ein Glas Wein trinkt, ist er trotzdem bekannt.
Wenn er für Beschränkungen für die Gastronomie aufruft, verdirbt er sich also quasi selbst den Spass. Das macht die ganze Sache glaubwürdiger. Und seine Wurzeln in der Arbeiterfamilie hat Lauterbach trotz seines Aufstiegs in höchste akademische Kreise auch nie vergessen. Das spüren auch Geringverdiener.
Als promovierter Mediziner erklärt er die Pandemie und die Massnahmen nicht nur bei Talkshows, sondern in zahlreichen TV- und Zeitungsinterviews. Seit er als Gesundheitsminister vereidigt worden ist, wirkt er dabei sachlicher und weniger polemisch als in den Monaten zuvor. Er strahl ministeriale Gelassenheit und weniger Aufgeregtheit aus, sozusagen. Am Mittwoch warnte er im ZDF heute Journal davor, die jüngste, wohl etwas weniger gefährliche Virus-Variation zu unterschätzen:
Schätzungen zufolge macht die ansteckendere Variante bereits fast die Hälfte aller Corona-Neuansteckungen im Land aus. Seit Lauterbach am Drücker ist, ist Tempo in der deutschen Coronapolitik. Das ist freilich auch das Verdienst von Kanzler Scholz, aber Lauterbach ist nun in seinem Element und schöpft aus dem Vollen. Unter anderem bei der Booster-Kampagne macht Deutschland mächtig vorwärts. Über 40 Prozent der Deutschen haben bereits die dritte Impfung erhalten. Bis Ende Januar sollen nochmals 30 Millionen Deutsche mit einer Auffrischimpfung geschützt werden.
Am Freitag beriet die Bundesregierung mit den 16 Regierungschefs das weitere Vorgehen in der Coronakrise. Lauterbach - unterstützt von Kanzler Scholz - setzte sich mit seiner Forderung nach landesweit einheitlichen 2G+-Regeln für die Gastronomie durch. Das heisst: Einlass in Kneipen und Bars gibt es für Doppelgeimpfte nur noch mit aktuellem Covid-Test, Geboosterte sind von der Testpflicht befreit. In Discos und Clubs herrscht weiterhin ein Tanzverbot. Bei kulturellen Veranstaltungen gilt 2G. Zudem wird die Quarantänen-Regel verkürzt. Geboosterte Kontaktpersonen müssen zudem nicht mehr in Isolation.
Wer sich exponiert wie Lauterbach und auch unbequeme Informationen über Tote und Erkrankte verbreitet und bei einigen Prognosen auch mal daneben liegt, polarisiert. Der 58-Jährige, der bisweilen wirkt wie ein zerstreuter Professor und beim Reden öfter schwer verständlich nuschelt, hat viele Feinde im Land. Seitdem er eine allgemein Impfpflicht propagiert, wird er eingedeckt mit Morddrohungen, an Silvester wurde die Scheibe seines Büros im Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen eingeschlagen. Schon zuvor wurden dort Parolen wie «Krankheitsminister» oder «Psycho Karl» an die Wände geschmiert.
Doch die Tatsache, dass Lauterbachs Fangemeinde wächst und er die Beliebtheitsskala vor Kanzler Scholz deutlich anführt - 66 Prozent der Deutschen sind einer Umfrage zufolge zufrieden mit der Arbeit des Gesundheitsministers - ist klares Indiz, dass die zunehmend aggressiver auftretenden Massnahmengegner und Impfskeptikerinnen eine laute Minderheit sind. 73 Prozent äussern in der gleichen ARD-Umfrage, dass die derzeitigen Corona-Massnahmen angemessen oder gar zu milde seien. Viele sind in der Tendenz Pro-Lauterbach eingestellt.
Dass der Ober-Mahner der Republik so bliebt ist, liegt auch an der Art, wie er sich gibt. Er besitzt Charme und die Fähigkeit zur Selbstironie. «Übertreibt es nicht. Ich sehe euch. Grüsse, euer Karl», vertwitterte er an Silvester ein bearbeitetes Foto, auf dem zu sehen ist, wie Lauterbach durch eine Scheibe in eine fremde Wohnung hineinblickt. (bzbasel.ch)
Und das Lauter ach der beliebteste Politiker sein soll brachte mich fast zum Lachen. Naja, auf Twitter ist er es vielleicht...