Ein Bekenntnis vorneweg: Ich habe das Buch, über das ich hier schreibe, nur in Auszügen gelesen. Das dürfte freilich auf viele Rezensenten zutreffen, denn als der Verlag die 700 Seiten umfassenden Druckfahnen von Angela Merkels Autobiografie «Freiheit» am Dienstagmorgen per E-Mail verschickte, lag das Werk bereits in den Buchläden.
Die deutsche Altkanzlerin, so viel lässt sich sagen, bleibt sich auch als Autorin treu: Wer auf Klatsch und Tratsch aus der Welt der Mächtigen hofft, dürfte enttäuscht zurückbleiben. Die «Bild»-Zeitung, im Bemühen, das vorliegende Material boulevardesk zu verwerten, trug jene Anekdoten zusammen, die sie anscheinend für die besten hält.
So erfährt etwa, wer sich fragte, warum Merkel 2015 beim G7-Gipfel im bayrischen Elmau vor Barack Obama die Arme ausbreitete, den Grund dafür: Die Bank, auf der Obama sass, sollte an den übergrossen Strandkorb erinnern, in dem Merkel, Wladimir Putin und George W. Bush acht Jahre vorher beim G8-Gipfel im mecklenburgischen Heiligendamm gesessen hatten. Weil ihr aber das englische Wort für «Strandkorb» nicht in den Sinn gekommen sei, habe sie gestikuliert, um die Grösse des Objekts anzudeuten, erzählt die Altkanzlerin nun. Das wäre also geklärt.
Dem Vernehmen nach hat Merkel ihre Memoiren selbst geschrieben – und das glaubt man ihr: Entscheidungen werden «vollzogen», Massnahmen «durchgeführt», Prozesse «erfolgen». Es ist allzu oft die Sprache der verwalteten Welt, zu der Merkel und ihre Co-Autorin Beate Baumann greifen, sodass sich ein Lesevergnügen kaum einstellen will.
Ereignisse werden im Stil einer Chronik abgehandelt; gelegentlich meint der Leser, ein Sitzungsprotokoll in Händen zu halten, das vor allem dann Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, wenn es besonders uninteressant wird. «Der Spiegel», der Politikerin noch immer gewogen, will auch darin das Positive sehen: Die Langeweile offenbare Merkels Gewissenhaftigkeit.
Sie habe ihre Erinnerungen nicht aufgeschrieben, um sich zu rechtfertigen, betont die Altkanzlerin. Ein Hinweis, der nicht von ungefähr kommt, meinen viele Deutsche doch mittlerweile, Merkel sei ihnen eine Erklärung schuldig: Ob einstürzende Brücken, die marode Bundeswehr, Probleme bei der Integration von Flüchtlingen oder eine naive Russland-Politik: Dass Deutschland nach 16 Jahren Merkel gut dastehe, kann keiner behaupten.
Die Selbstzufriedenheit, die die Christdemokratin in ihren Memoiren zur Schau stellt, wirkt gemessen daran fast aufreizend. Räumt sie doch einmal Fehler ein, tut sie dies, ohne ihre verbliebenen Anhänger zu verprellen: Als sie sich 2003 für Bushs Irakkrieg ausgesprochen habe, habe sie unrecht gehabt. Und dass sie 2008 die Tugenden der «schwäbischen Hausfrau» beschworen habe, findet sie heute «provinziell und wohlfeil».
Ihre Migrationspolitik hält Merkel weiterhin für richtig oder – um es mit ihren Worten zu sagen – «alternativlos». Dass sie damit die AfD gross gemacht habe, findet sie nicht. Vielmehr nimmt sie die übrigen Parteien in die Pflicht: Wenn diese annähmen, «die AfD klein halten zu können, indem sie unentwegt über deren Themen sprechen, werden sie scheitern».
Das darf man ebenso als Kritik an Friedrich Merz, ihrem konservativeren Nachfolger an der CDU-Spitze, lesen, wie die Aufforderung, die Schuldenbremse zu lockern. Obschon Christdemokratin, bleibt Merkel ihrer Linie treu, vor allem Rote und Grüne zu erfreuen.
Warum ist sie eigentlich 1990, nach dem Untergang der DDR, in die CDU eingetreten? Auch dazu äussert sie sich, ohne etwas zu verraten: «Um wenigstens etwas von der Programmatik unseres – im wörtlichen Sinne – Demokratischen Aufbruchs weiterleben zu lassen». Aber wäre das nicht auch in der SPD, der FDP oder bei den Grünen möglich gewesen? Darüber reflektiert die Altkanzlerin ebenso wenig wie über ihren Freiheitsbegriff, den ihre Erinnerungen doch im Titel führen. Angela Merkel bleibt auch im Ruhestand eine Pragmatikerin der Macht.
Wenn Merkel «zeitnah» sagte, meinte sie das gleiche, wie wenn ein Spanier «mañana» sagt. Darum sagte sie auch nicht «bald» oder «schnellstmöglich» oder gar «jetzt».
Und es gibt immer Alternativen, es ist (wäre) die Aufgabe der Politiker, verschiedene Alternativen abzuwägen und dann die beste zu wählen. Wer etwas von Beginn weg als «alternativlos» bezeichnet, verweigert schlicht die Diskussion.
Merkel war während ihrer Amtszeit schon immer sehr selbstgefällig und selbstgerecht.
Und offenbar fehlt es ihr an Reflexionsvermögen, um auch mit zeitlichem Abstand – und so vielen Jahren danach – ihre Rolle und ihr Handeln etwas selbstkritischer zu reflektieren.
Wäre sie – mit sich selber und gegenüber der Öffentlichkeit – etwas 'ehrlicher' [!], würde sie ihr Handeln gegenüber RU u. Putin (Minsk, Nordstream, etc.) viel kritischer betrachten. Aber offensichtlich gelingt ihr das nicht.
Nach den vielen Rezessionen werde ich auf ihre Biographie verzichten.