Parentifizierung: Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden
Parentifizierung nennt man es, wenn Kinder die Aufgaben ihrer Eltern übernehmen müssen und ihre eigenen Bedürfnisse dabei hinten anstellen. Oft ist das der Fall, wenn Elternteile krank sind, wie Franziskas Mama, die mit Depression diagnostiziert war.
Für die meisten Kinder ist das massiv überfordernd. Franziska flüchtete sich in den Alkohol und begriff erst nach fünf Entzügen, welche Hilflosigkeit dahintersteckte.
Über ihren Weg der Heilung schrieb sie gemeinsam mit der Journalistin Nina Faecke das Buch «Gut, dass du nicht mehr da bist: Die toxische Beziehung zu meiner Mutter – und wie ich lerne loszulassen» (Heyne Verlag). Watson traf die PR-Managerin, die auch als systemischer Coach in Berlin und Mallorca arbeitet, in Hamburg zum Gespräch über parentifizierte Kinder und Vergebung.
watson: Welcher Moment aus deiner Kindheit geht dir heute noch nahe?
Franziska Hohmann: Eine Szene, die immer wieder hochkommt, ist, wie ich mit etwa vier Jahren am frühen Morgen alleine aufstehe und meiner Mutter am Herd ihren Haferschleim koche, damit sie mich – mit Glück – zum Kindergarten bringen kann. Ich erinnere, wie es war, mit dem warmen Teller in der Hand in ihr vermufftes Schlafzimmer hochzugehen. Damals fand ich es normal, dachte: «Ich tue jetzt mein Bestes, damit es Mama wieder gut geht.» Aber heute macht es mich immer noch manchmal wütend, dass sie mir diese Verantwortung angetan hat.
Wo war dein Vater?
Der war quasi nicht existent, wollte die Vaterschaft nicht und hat sich nie um mich gekümmert. Ich lebte bei meiner Mutter, die schon mit 18 Jahren als depressiv diagnostiziert wurde und viele Psychopharmaka nehmen musste, und kümmerte mich sehr viel um mich selbst. Zum Glück haben Oma und Opa nebenan gewohnt. Manchmal, wenn ich auf Geburtstagsfeiern sah, wie andere Eltern alles für ihre Kinder gaben, tat das richtig weh.
Damals hat keiner eingegriffen?
Es gab Gespräche zwischen Verwandten, aber alle haben gehofft, das renke sich ein. Anfang der 80er war es vielen noch nicht bewusst, was die Frühentwicklungsphase mit der Psyche eines Kindes macht. Keiner wollte sagen: «Wir nehmen der Frau das Kind weg», denn zwei Tage später konnte meine Mutter wieder total gut drauf sein. Ich erkenne auf alten Fotos, dass es auch sehr viele schöne Momente zwischen uns gab. Nur: Ich wusste nie, wie lange das anhält.
Du konntest dich also nie ganz fallenlassen?
Ja, denn sobald Mama sagte: «Mir ist so komisch, so schlecht, so 'kotterig'», wie sie es immer nannte, wusste ich – morgen steht sie nicht mehr auf. Die Entscheidung meiner Familie, mich schon mit neun Jahren aufs Internat zu bringen, sollte mich auch vor dieser Instabilität schützen.
Dort hast du als Teenager dein erstes Bier getrunken, wurdest alkoholsüchtig. Wie kam das?
Die meisten Jugendlichen trinken mit 13, 14 Jahren ihr erstes Bier, das ist normal. Aber bei mir setzte sofort ein wohliges Taubheitsgefühl ein, als ob mich das Betrunken-Sein beschützt. Ich wollte mehr davon, abtauchen, flüchten.
In welchen Momenten hast du zum Alkohol gegriffen?
Eigentlich immer. Wenn ich mich richtig gefreut habe, habe ich angestossen. Ich trank, wenn ich Liebeskummer hatte. Und mit einem Drink liess sich auch Wut herunterspülen. Jede Emotion habe ich abgestumpft. Vielleicht, weil ich als Kind nicht wusste, wohin mit denen, da die Gefühle meiner Mutter bereits allen Raum einnahmen.
Du hast viel Therapie hinter dir. Was hat dich das über Parentifizierung gelehrt?
Wie viele Formen es gibt. Zahlreiche Kinder kümmern sich um ihre kranken Eltern, aber es gibt auch Parentifizierung zwischen Geschwistern, wenn ein älteres Kind die jüngeren versorgt. Fast alle übernehmen zu viel Verantwortung, plagen sich mit Schuldgefühlen und haben Schwierigkeiten, zu vertrauen. Viele dieser Kinder flüchten auf die eine oder andere Art – zum Beispiel in Ess- und Spielsüchte, oder, wie ich später, in den Alkohol.
Erkennt man die Probleme dieser Kinder von aussen?
Ich glaube nicht. Ich wirkte auf andere immer stark, war unheimlich selbstständig. Im Nachhinein würde ich der kleinen Fränzi sagen: «Ich bin stolz darauf, wie du das alles gewuppt hast. Tut mir aber leid, dass es sein musste.»
Gibt es Sachen, die du aufgrund deiner Geschichte heute nicht mehr abkannst?
Ewig lange ausschlafen oder lang im Bett liegenbleiben. Das ertrage ich nicht, das erinnert mich sofort an die Bett-Phasen meiner Mutter, wo sie nicht hochkam. Sogar bei einer Grippe ziehe ich wenigstens aufs Sofa um.
Heute versuchen viele Eltern ihre Kinder bedürfnisorientiert zu erziehen, zu schauen, was es gerade emotional braucht.
Für mich ist das oft unerträglich. Mich nervt es, wenn ich sehe, wie viel Gewese viele Eltern um Kinder machen, ihnen Wünsche von den Lippen ablesen und die Gefühle begleiten, wenn die sich das Knie aufschlagen – wie aufopferungsvoll sich alle ums Kind kümmern...
Weil du findest, die Eltern verlieren sich darin? Oder weil du die Kinder beneidest?
Wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, hat es was mit Neid zu tun. Ich arbeite aber daran. Denn natürlich hätte ich mir das selbst gewünscht. Mir wurde nicht mal ein Bruchteil dieser Zuwendung zuteil.
Du hast später einen Beruf ergriffen, indem du dich um Musiker:innen und ihre Launen kümmern musstest. Ist das ein roter Faden?
Zufall ist es wohl nicht. Als Promoterin ist man der Punching-Ball zwischen Musiker:innen, Plattenfirma und Medien. Ständig muss man Stimmungen anderer Menschen erschnuppern und schon im Vorfeld abfangen, damit der Tag glattläuft. Das konnte ich sehr gut, das kannte ich nämlich schon. In diesem Zirkus fiel auch nicht auf, dass ich nur arbeitete und trank, keinen Partner hatte und auch keine Kinder. Meine Mutter war mein Kind.
Aber du hattest Freundinnen?
Ja. Die haben mich auch aufgefangen, als ich nach meinem letzten krassen Alkoholabsturz trocken wurde. Sie hatten schon früher interveniert, aber man muss ja leider selbst am Boden aufschlagen. Bei mir war es so weit, als ich nach vier gescheiterten Entzügen mit 3,7 Promille auf der Intensivstation aufwachte und erst mal an den Schrank ging, um Desinfektionsmittel zu trinken. In diesem Moment dachte selbst ich: «Fränzi, das ist das Ende.»
Du wurdest vom Kind, dass sich um alle kümmert, zu einer Frau, um die man sich kümmern musste.
Deshalb glaube ich an eine Kette von Karma. Meine Mutter hat mir Fürsorge nicht geben können, auch weil ich das als Erwachsene nicht mehr zuliess, aber dafür haben mich meine Freundinnen umsorgt. Dieser Gedanke versöhnte mich etwas, mit allem, was mir fehlte, denn ich bin am Ende reich beschenkt worden mit Liebe unter Freunden.
Hast du ihr vergeben?
Ja, wobei ich immer noch dabei bin, Dinge aufzuarbeiten. Ich verstehe, dass sie krank war. Sie hat mir nicht mit Absicht wehgetan und selbst hart kämpfen müssen in ihrem Leben. Trotzdem bin ich sauer und traurig, dass mir keine glückliche Kindheit vergönnt war. Diese Gleichzeitigkeit der Gefühle – auf meine Mutter wütend zu sein, aber auch Verständnis für sie zu haben – begleitet mich. Letztlich ist die Frage: Will ich wütend oder frei sein? Und ich will jetzt frei sein.