Der Nobelpreis für Medizin geht in diesem Jahr an die US-Amerikaner Victor Ambros und Gary Ruvkun für die Entdeckung der microRNA und ihrer Rolle bei der Genregulierung. Das teilte das Karolinska-Institut in Stockholm mit. Ihre Forschung hat weitreichende Auswirkungen auf mehrere medizinische Bereiche.
«Der Nobelpreis dafür ist absolut gerechtfertigt», kommentierte Markus Stoffel von der ETH Zürich den Nobelpreis auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Es handle sich um eine sehr wichtige Entdeckung.
Unter anderem seien diese Ansatzpunkte für neuartige Medikamente. Bisher sei zwar keine Therapie mit microRNA (miRNA) auf dem Markt, es gebe aber bereits fortgeschrittene Programme. So würden Forschende Therapien, die auf microRNA abzielen, für verschiedene Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes untersuchen.
Wenn die Genregulation aus dem Ruder läuft, kann dies zu schweren Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Autoimmunität führen. Daher ist das Verständnis der Regulierung der Genaktivität seit vielen Jahrzehnten ein wichtiges Ziel. Lange Zeit wurde geglaubt, dass deren wichtigste Prinzipien geklärt seien. Doch 1993 veröffentlichten Ambros und Ruvkun unerwartete Ergebnisse, die eine neue Ebene der Genregulierung beschreiben, die sich als äusserst bedeutsam und in der gesamten Evolution konserviert erwies.
Im Fadenwurm Caenorhabditis elegans entdeckten die diesjährigen Nobelpreisträger microRNA – und damit ein «völlig neues Prinzip der Genregulation», so das Nobelpreis-Komitee in seiner Begründung.
MicroRNA erweise sich als grundlegend für die Entwicklung und Funktion von Organismen. Die entdeckte Genregulierung sei seit hunderten Millionen Jahren im Einsatz. Der Mechanismus habe die Evolution von immer komplexeren Organismen ermöglicht.
Die in den Chromosomen gespeicherte Information kann mit einer Gebrauchsanweisung für alle Zellen des Körpers verglichen werden. Jede Zelle enthält dieselben Chromosomen und damit denselben Satz von Genen. Verschiedene Zelltypen wie Muskel- und Nervenzellen haben trotzdem sehr unterschiedliche Eigenschaften. Dafür spielen Mechanismen der Genregulation eine Rolle, wie sie von Ambros und Ruvkun beschrieben wurden.
Doch die bereits 1993 in zwei «Cell»-Artikeln veröffentlichte Entdeckung der microRNA – die zunächst wissenschaftlich auf Schweigen stiess – ist nicht nur wesentlicher Bestandteil der Gebrauchsanweisung unserer Zellen – sie hat auch medizinisch weitreichende Folgen: Fehler in der Regulierung durch microRNA können zu Krebs beitragen, ebenso hängen Krankheiten wie angeborene Schwerhörigkeit, Augen- und Skeletterkrankungen mit Mutationen in Genen zusammen, die für microRNAs kodieren.
Mutationen in einem der Proteine, die für die microRNA-Produktion erforderlich sind, führen zum DICER1-Syndrom, einer seltenen Erbkrankheit, die das Risiko für Krebs in verschiedenen Organen und Geweben erhöht.
Victor Ambros (70) arbeitet an der University of Massachusetts Medical School, Gary Ruvkun (72) an der Harvard Medical School sowie am Massaschusetts General Hospital. Als der Preis bekanntgegeben wurde, war es an der Ostküste der USA noch sehr früher Morgen. Ruvkun wurde deswegen vom Anruf der Nobelversammlung geweckt und klang am Telefon noch sehr müde. Ambros hingegen ging zunächst gar nicht ans Telefon. «Ich habe eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen und hoffe, dass er mich bald zurückruft», sagte der Sekretär der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann.
Die bedeutendste Auszeichnung für Mediziner ist wie im Vorjahr mit 11 Millionen schwedischen Kronen (knapp 910'000 Franken) dotiert. Sie geht je zur Hälfte an die beiden Forscher.
MicroRNA (miRNA) und Messenger-RNA (mRNA) sind zwei unterschiedliche Arten von RNA-Molekülen mit verschiedenen Funktionen und Eigenschaften. Im vergangenen Jahr hatten die Biochemikerin Katalin Karikó und der Immunologe Drew Weissman den Medizin-Nobelpreis für ihre Vorarbeiten zur Entwicklung sogenannter mRNA-Impfstoffe gegen Corona bekommen. mRNA steht für Messenger-RNA (auch Boten-RNA), sie übermittelt den im Erbgut liegenden Bauplan eines Proteins an die Proteinfabriken der Zellen.
Victor Ambros forscht und lehrt im Nordosten der USA. Er wurde im US-Bundesstaat New Hampshire geboren und wuchs im benachbarten Vermont auf. Seine Doktorarbeit schrieb er am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort begann er als Postdoc auch, die Entwicklungszeit der Fadenwürmer zu untersuchen. Nach langjährigen Stationen an der Harvard University und an der Dartmouth Medical School erhielt er eine Professur an der University of Massachusetts Medical School.
Gary Ruvkun stammt aus Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien und verbrachte sein bisheriges Berufsleben ebenfalls in den USA. Er studierte an der University of California und der Harvard University, ehe er zum MIT in Cambridge wechselte. Dort untersuchte er, wie auch Ambros, in den 80er Jahren Fadenwürmer im Labor von Robert Horvitz, der 2002 den Nobelpreis erhielt. Danach forschte Ruvkun am Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School, wo er derzeit Professor für Genetik ist.
Seit 1901 haben 227 Menschen den Medizin-Nobelpreis erhalten, darunter 13 Frauen. Mit dem Medizin-Preis startete der Nobelpreis-Reigen. Am Dienstag und Mittwoch werden die Träger des Physik- und des Chemie-Preises benannt. Es folgen die für Literatur und für Frieden. Die Reihe der Bekanntgaben endet am kommenden Montag mit dem von der schwedischen Reichsbank gestifteten sogenannten Wirtschafts-Nobelpreis.
Die feierliche Vergabe aller Auszeichnungen findet traditionsgemäss am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel. Bereits am vergangenen Donnerstag waren die Träger der diesjährigen Alternativen Nobelpreise von der Right Livelihood Stiftung bekanntgegeben worden. (rbu/sda/dpa)