Wäre Émile Soleil noch am Leben, so hätte er Ostern möglicherweise im Ferienhaus seiner Grosseltern verbracht, hätte im Garten nach Osterhasen und Eiern gesucht und sich geschmolzene Schokolade von den Fingern geschleckt. Die Grosseltern residierten im idyllischen Weiler Le Haut-Vernet, zwei Kilometer von Le Vernet und 85 Kilometer von Marseille entfernt. Möglicherweise wären acht der neun Geschwister seiner Mutter wieder mit dabei gewesen. Und möglicherweise hätte Émile im neuen Gartenhäuschen gespielt. Seine selbst noch sehr jungen Onkel und Tanten (sie waren zwischen sieben und achtzehn Jahren alt) hatten es im letzten Sommer gebaut. Einer der Bautage war der 8. Juli 2023 gewesen.
An jenem Samstag im Sommer verschwand der damals zweieinhalbjährige Émile innerhalb weniger Minuten aus dem Kreis seiner Familie und hinterliess keine einzige Spur. Keine Abdrücke seiner kleinen Wanderschuhe und keine Kleidungsstücke wurden gefunden. Am Morgen hatte ihn seine Mutter bei ihren Eltern abgeliefert, gegen 17 Uhr wollten sich alle zu einem Ausflug aufmachen, etwa zehn Minuten lang war Émile im Aufbruchstrubel unbeobachtet.
Nachbarn berichteten, sie hätten ihn noch auf dem steilen Strässchen, das zur Dorfbeiz führt, gesehen. Er habe sich da nicht mehr als 20 Meter vom Haus der Grosseltern entfernt befunden. Doch als diese ihn ins Auto setzen wollten, war er einfach nicht mehr da.
Weder die rund 800 Suchkräfte noch die Spürhunde fanden in den kommenden Tage auch nur den kleinsten Hinweis. Der Gemeindepräsident versuchte die Gemüter zu beschwichtigen, Émile sei mit seiner Familie schon oft in der Natur um Haut-Vernet unterwegs gewesen, ihn würde da nichts erschrecken und er sei auch geländesicher. Was von einem Zweieinhalbjährigen vielleicht doch etwas viel erwartet war.
Die Gegend um Le Vernet wurde weiträumig mit Drohnen kartographiert, und alle Handybewegungen, die sich zur Tatzeit vollzogen hatten, wurden nachverfolgt, es waren 1600.
Die Idee einer Entführung oder gar von Mord verfestigte sich. Le Haut-Vernet (25 Einwohner) und Le Vernet (123 Einwohner) verfielen in Misstrauen und Verdächtigungen. Hatte ein Bauer den kleinen Jungen aus Versehen mit seinem Mähdrescher überfahren? War Émile von einem Wolf oder einem Raubvogel gerissen worden? Oder hatte ihn jemand getötet und die Überreste verscharrt? Die Polizei untersuchte alle und alles, jedes Haus, jedes Auto wurde inspiziert, frisch betonierte Sitzplätze wurden wieder aufgespitzt und Taucher suchten Émile auf dem Grund eines Sees. Man fand genau: nichts. Am 29. Juli gab die Polizei die Hoffnung auf, Émile lebend zu finden.
Im Gegensatz zur Polizei entdeckten die Medien einiges. Etwa, dass es sich bei Émiles Grosseltern um streng konservative Christen und Angehörige der rechtsextremen Vereinigung Chrétienté-Solidarité handelte. Dass seine Eltern politisch ebenfalls weit rechts standen, aktiv den Wahlkampf des Rechtsradikalen Eric Zemmour unterstützten und Émiles Vater 2018 nach einem rassistischen Übergriff verhaftet worden war. Ebenfalls 2018 wurde Émiles Grossvater angeklagt: 1993 war er im Kinderdorf einer religiösen Gemeinschaft als Erzieher tätig gewesen und habe dort Minderjährige missbraucht, lautet der Vorwurf. Er gab zu, regelmässig gewalttätig gegen die ihm anvertrauten Kinder gewesen zu sein, bestritt jedoch den sexuellen Missbrauch. Ein Kollege von ihm bekannte sich schliesslich schuldig.
Und so richtete sich denn der Fokus der polizeilichen Ermittlungen auch gegen die Familie. Im November 2023 wurde die nähere und weitere Verwandtschaft von Émile einer grossangelegten Razzia unterzogen.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Le Vernet nennen ihren Ort «Das Dorf der Verdammten». 2008 war die Wirtin des Café du Moulin von einem jungen Mann zu Tode geprügelt worden. 2018 liess der deutsche Pilot Andreas Lubitz seinen Germanwings Airbus A320 bei Le Vernet abstürzen. Er tötete dabei nicht nur sich selbst, sondern 150 Insassen. Von Émiles Familie distanzieren sich heute alle in Le Vernet.
Im Januar 2024 ist man auf dem gleichen Ermittlungsstand wie im Juli 2023 und weiss noch immer überhaupt nichts. Hunderte von Hinweisen aus der Bevölkerung sind ausgewertet worden – vergeblich.
Am Mittwoch vor Ostern fährt die Polizei erneut in Le Vernet und Le Haut-Vernet ein, sperrt ein Gebiet, das sie zuvor schon «mit der Zahnbürste durchkämmt» hatte, noch einmal ab, und beginnt ein minutiöses Reenactment, eine Nachstellung, von Émiles letzten Stunden. Mit Familienmitgliedern und Augenzeugen. Die Polizei will sich noch einmal ein objektives Bild verschaffen, sie favorisiert weder die Möglichkeit eines Unfalls, noch die einer Entführung oder eines Mordes. Zwölf Stunden lang stellen insgesamt siebzehn Menschen die schicksalshaften Minuten kurz nach 17 Uhr vom 8. Juli 2023 nach. Am Karfreitagmorgen werden die Ortschaften wieder freigegeben.
Innerhalb des eben noch abgesperrten und zuvor bereits mehrfach durchsuchten Rayons findet eine Hikerin am Samstag ganz zufälligerweise einen kleinen menschlichen Schädel samt Zähnen. Der Fundort liegt zwei Kilometer Luftlinie vom Haus von Émiles Grosseltern entfernt. Die Hikerin tut, was man unter keinen Umständen tun sollte, sie entfernt den Schädel vom Fundort und bringt ihn der Polizei. Diese lässt ihn per Helikopter ins Institut für Kriminalitätsforschung in Pontoise fliegen.
Am Ostersonntag um 9.30 Uhr werden Émiles Eltern aus dem Ostergottesdienst geholt, es steht fest, dass es sich bei dem Schädel um den ihres Sohnes handelt.
Hunde und Drohnen suchen nach weiteren Überresten des Jungen. Wie der Schädel oder Teile davon (die Kommunikation der Polizei ist etwas schwammig) an ihren Fundort gekommen sind, weiss niemand. Eine Polizeisprecherin sagt, sie hätten sowohl von einem Menschen, als auch einem Tier oder wetterbedingten Einflüssen deponiert werden können. Dass sie ausgerechnet an jenem bestens dokumentierten Ort neun Monate lang unentdeckt geblieben sein sollten, glaubt niemand.
«Le Haut-Vernet était un heureux village», heisst es auf der Website für die Provence, Le Haut-Vernet war ein glückliches Dorf. Als könne das Glück nie mehr dorthin zurückkehren. Einer der Glücksgründe gilt allerdings immer noch: «300 jours de soleil par an!», 300 Sonnentage im Jahr. Sie werden bleiben. Nur die Tage von Émile Soleil sind gezählt.
Den Eltern viel Kraft, um mit der Trauer umzugehen.