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Kult-Obdachloser: «Mit Macron ist es wie mit einer Kinder-Überraschung»

Christian beim Canal Saint-Martin: Der 44-Jährige lebt sei zwei Jahren auf den Strassen von Paris.christian page

Schweizer Kult-Obdachloser: «Mit Macron ist es wie mit einer Kinder-Überraschung»

Der Schweizer Christian, 44, lebt in Paris auf der Strasse. Er twittert regelmässig über politische Themen und gilt als bekanntester Obdachloser Frankreichs. So fühlt er sich heute, nachdem klar ist, wer das Land die nächsten fünf Jahre regieren wird. 
09.05.2017, 10:0609.05.2017, 18:34
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*Der Text entspricht Christians Erzählungen. Diese wurden übersetzt und von der Journalistin textlich wiedergegeben.

Überrascht hat mich das Resultat nicht. Ich sass hier, draussen auf meinem betonbelegten Plätzchen im 10ème arrondissement, als ich es erfahren habe. Mein Kollege Faïd war zu Besuch. Er hatte sich in seinen Schlafsack eingewickelt zu mir auf den Boden gesetzt, wir wollten den Wahlabend gemeinsam verfolgen. Es war kalt. Aber etwas Gutes hat so eine Wahl an sich: Die Spannung lässt einem vergessen, dass man nasse Socken trägt und friert. 

Zur Person
Christian ist im Wallis aufgewachsen. Er absolvierte eine Lehre als Weinkellner, lebte später eine Zeitlang in Zürich. Seit er 1994 einen coup de coeur für Paris hatte, wohnt er dort. Er arbeitete in noblen Restaurants, bevor er vor zwei Jahren nach einer schwierigen Scheidung auf der Strasse landete. Er ist schweizerisch-französischer Doppelbürger. Auf seinem Twitter-Account @Pagechris75 folgen Christian derzeit über 10'500 Menschen. In der Tageszeitung «Libération» kam er während der Präsidentschaftskampagne regelmässig zu Wort – als einer der Vertreter von «France invisible», dem unsichtbaren Frankreich. Er gilt als bekanntester Obdachloser Frankreichs. Diese Präsenz will er nutzen, um auf die Anliegen der sans-abri aufmerksam zu machen. Am liebsten hätte Christian Jean-Luc Mélenchon als nächsten Präsident gehabt. Den Akku seines Smartphones lädt er jeweils in Zentren für Obdachlose auf.
«Etwas Gutes hat so eine Wahl an sich: Die Spannung lässt einem vergessen, dass man nasse Socken trägt und friert.»

Der Regen ist Christians grösster Feind. «Fazit der Nacht: Der Regen nässt. Es wird wohl schwierig heute. Aber ich wünsche euch allen einen schönen Tag.»

Einen Fernseher habe ich ja nicht. Und von meinem Smartphone aus klappt das Live-Streaming nicht richtig. Aber das Radio, das funktioniert zum Glück. Und die Bilder, die sind ja sowieso unnötig. Was zählte war, dass wir um 20 Uhr den Namen des neuen Präsidenten hören konnten. Und später die verschiedenen Kommentare und Analysen der Journalisten. Ich schaltete den ganzen Abend zwischen rtl, france inter und franceinfo hin und her, um verschiedene Ansichten zu hören. Und mir so meine eigene bilden zu können. 

«Schon vor dem ersten Wahlgang war für mich klar: Der Gegner von Marine Le Pen wird Präsident.»

Was für mich aber bereits vor dem ersten Wahlgang klar war, und dafür brauchte ich keine Analysen: Wer in der Stichwahl gegen Le Pen antritt, wird neuer Président. Da hätte auch ein Asselineau das Rennen gemacht (Anm. d. Red: François Asselineau kandidierte ebenfalls für die Präsidentschaft und konnte im ersten Wahlgang weniger als ein Prozent der Stimmen für sich entscheiden).

Natürlich bin ich nun froh, dass Le Pen nicht gewählt wurde. Aber wisst ihr, viele Obdachlose sind anderer Meinung. Sie brauchen halt einen Sündenbock, um ihre Situation zu rechtfertigen. Und das wären dann die Immigranten, die Ausländer. Ich aber weiss, dass es nur meine Schuld ist, dass ich heute auf der Strasse schlafe. Ich habe mein Leben nicht im Griff. Nie wird mir jemand weismachen können, ich sei wegen einem Araber oder einem Schwarzen auf der Strasse. 

«Ich empfinde es als extrem schwierig, mit dem Wissen durch die Strassen zu gehen, dass so viele hier saudoof sind.»

Das Wahlresultat von Le Pen hinterlässt aber auch einen bitteren Beigeschmack. Sie hat 33,9 Prozent der Stimmen erhalten. Das ist viel für eine rechtsextreme Partei – und dies sogar trotz komplett misslungener Debatte. Diese Leute denken, Ausgrenzung sei nützlicher als Integration. Ich empfinde es als extrem schwierig, mit dem Wissen durch die Pariser Strassen zu gehen, dass so viele in diesem Land saudoof sind.

«Ultraliberal reimt sich oft nicht mit sozial.»

Hier ist die Stimmung heute, einen Tag nach der Wahl, trübe. Das liegt aber in erster Linie am Wetter. Sonst macht sich eher eine grosse Erleichterung bemerkbar. Denn bei uns in der Hauptstadt, lag der Wähleranteil für Le Pen unter 10 Prozent. Entsprechend panisch war die Bevölkerung einige Tage vor dem zweiten Wahlgang beim Gedanken, dass die Marine es schaffen könnte. 

Ich freue mich aber auch nicht über die Wahl Macrons. Ultraliberal reimt sich ja oft nicht mit sozial. Viel verändern wird sich meiner Meinung nach aber ohnehin nicht. Ich hoffe einfach, er wird bei der Arbeitslosigkeit erreichen können, was er verspricht.

Denn ich werde das Gefühl nicht los, wir werden noch zu spüren bekommen, dass wir falsch lagen, ihn ins höchste Amt der Nation zu wählen. Mit ihm ist es wie mit einem Kinder-Surprise: Man kauft es, und weiss erst danach, was drin ist. 

«Mit Macron ist es wie mit einer Kinder-Überraschung: Man kauft es, und weiss erst danach, was drin ist.»

Aber ich muss ja zugeben, die Liberalisierung der Wirtschaft hat für uns Arme nicht nur schlechte Seiten: Früher musste ich für ein Zugticket nach Lille knapp 50 Euros aus dem Portemonnaie zücken – das war so gut wie unmöglich für mich. Heute gibt es Busse, die diese Strecke für 19 Euro fahren. Und das haben wir unter anderem Macron zu verdanken, der ja früher Wirtschaftsminister war.

Wir müssen dem Kerl jetzt seine Chance geben. Und ihm ermöglichen, zu regieren. Wenn er in einem Jahr immer noch nichts hingebracht hat, können wir immer noch auf die Strasse zum protestieren. 

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