Die Ernte naht, der neue Jahrgang verspricht laut Kennern viel. Doch die Bordeaux-Winzer sind nicht bei der Sache. Sobald sie die diesjährigen Trauben eingebracht haben, werden sie einen Teil ihrer Reben ausreissen. Im grössten Weingebiet der Welt werden ab Oktober 10'000 der 110'000 Hektaren Rebberge gerodet. Der Grund: Das Bordeaux-Gebiet produziert zu viel Wein, die Preise sacken in den Keller. Ausnahmen sind nur die renommierten «Châteaux»-Adressen, die weiter Spitzenpreise erzielen. In den Supermärkten der Stadt Bordeaux wird lokaler Tischwein hingegen zu 1.60 Euro angeboten – billiger als Essig.
Weinüberschüsse gibt es in ganz Europa, und die EU finanziert Rodungen mit 160 Millionen Euro. Die französische Regierung legt nochmals 100 Millionen drauf. Sie dienen zum einen dazu, überzählige Weinberge zu schleifen und zum Teil aufzuforsten; zum anderen wird eine unbekannte Menge Rotwein «vom Markt genommen», wie es beschönigend heisst. Im Klartext wird der Traubensaft destilliert, also zu Industriealkohol verarbeitet. Auch das schmerzt jeden Weinbauer, vor allem im Bordeaux-Gebiet.
Zu allem Elend sucht derzeit ein Schädling, der Falsche Mehltau, weite Teile des Bordeaux-Gebietes heim. Die Trockenheit wirkt nach Expertenangaben stark beschleunigend. Zahllose Weinberge, die von dem algenartigen Pilz befallen wurden, mussten schon eingestampft werden. Ironischerweise trägt der Mehltau dazu bei, die Überproduktion im Bordeaux-Gebiet auf natürliche Weise zu verringern. Doch sollen sich die Winzer etwa eines Schädlings erfreuen?
Alarmierend für sie ist, dass die Weinschwemme auf einem Langzeittrend beruht: Das historische Nationalgetränk kommt in Frankreich aus der Mode. Laut dem Branchenbarometer Sowine trinken die Franzosen heute noch 38,9 Liter Wein im Jahr, Tendenz stark sinkend. Der Bierkonsum ist hingegen auf 39,1 Liter gestiegen. Und zwar rasant.
Auch in Beliebtheitsumfragen wurde Wein diesen Sommer erstmals überhaupt von Bier überholt. Das Weinmagazin «Revue du Vin» spricht von einer «soziologischen Wende». Nach den Weltkriegen tranken die Franzosen und Französinnen im Schnitt noch 100 Liter Wein im Jahr, mehr als das Doppelte von heute. Zum Mittagessen gab es einen «ballon de rouge», auch wenn er auf dem Land häufig mit Wasser verschnitten wurde, und sogar in den Schulkantinen wurde bis 1981 Rotwein angeboten.
Bier, das einmal als kulturloses «germanisches» Billiggetränk galt, trifft dagegen den Zeitgeschmack. In der aktuellen Inflation schauen gerade junge Leute aufs Geld, wenn sie ausgehen. Und in der Sommerhitze bestellen sie, wenn überhaupt Alkohol, dann im besten Fall noch ein Glas Weissen, aber kaum mehr Rotwein. Überall in Frankreich, selbst in Bordeaux, mehren sich die Bierschenken und Brasserien. Von Marseille bis Paris bieten sogenannte vergängliche Sommerbars unzählige Biersorten mit kreativen Geschmacksnoten an.
Die Alltagsmarken «1664» oder «Kronenbourg» sind dabei weniger gefragt als die handwerklichen Biere mit ausgefallenen Eigenschöpfungen wie «Lime-Basilic» oder «Sour-Ginger-Mango-Bier» – beides Erfindungen einer Brasserie in der Ausgehzone von Bordeaux.
Gegorener Traubensaft lässt keine solchen Extravaganzen zu. Anders als die Cognac-Branche nördlich von Bordeaux, die sich mit den amerikanischen Rappern eine völlig neue Klientel und damit den US-Markt erschlossen hat, spricht Rotwein jugendliche Konsumenten kaum mehr an. Als Feinschmeckerprodukt bleibt er natürlich gefragt und auch exportierfähig. Aber das garantiert nicht die Quantität. In der aktuellen Teuerung ist Wein laut Umfragen eines der ersten Produkte, auf das man bei Finanzknappheit verzichtet. Bier ist günstiger, klimaresistent und auch alkoholfrei erhältlich. Die Frage ist nur noch: Wann erhält Paris sein erstes echt französisches Oktoberfest? (aargauerzeitung.ch)
Und das Problem dabei ist, dass der sogar auch noch recht gut ist.