So verlief der erste Tag im Berufungsprozess um Gisèle Pelicot
Zehn Monate lang hatte man nichts mehr gehört von Gisèle Pelicot. Sie erhielt zwar den französischen Orden der Ehrenlegion, sie verlangte (und erhielt) Schadenersatz, weil eine Pariser Illustrierte sie mit ihrem Lebenspartner abgebildet hatte; und sie bereitet für das kommende Jahr ihre Memoiren vor. Aber das Wort hat sie öffentlich nie mehr ergriffen.
Jetzt gibt die Frau, die durch ihren Fall und ihren Kampf weltberühmt geworden ist, ihre selbst auferlegte Zurückhaltung nochmals auf. Am Montag erschien Gisèle Pelicot pink gekleidet zum Berufungsprozess in Nîmes. Pelicots Anwalt Stéphane Babonneau hatte vorausgeschickt, seine Klientin sei zwar müde, aber sie wolle ihre «Verantwortung» ein letztes Mal wahrnehmen.
Noch einmal muss sie in albtraumhafte Erinnerungen eintauchen – Erinnerungsfetzen an furchtbare Gewalt-Soireen, hinter denen ihr eigener Ehemann steckte: 50 fremde Männer hatte er über eine Website in das Haus der Pelicots in dem Provence-Örtchen Mazan eingeladen; und sie alle vergingen sich an der zuvor betäubten Gattin, missbrauchten sie, filmten sie. Der reinste Horror, jahrelang.
Gisèle Pelicot, heute 72, macht aber auch diesmal nicht vom Recht des Opfers Gebrauch: Sie verlangte keine Verhandlung hinter verschlossener Tür. Die Angeklagten und auch ihre scheusslichen Videos sollten gezeigt werden, «damit die Schande die Seite wechselt»: So hatte Gisèle Pelicots wichtigster Satz im monatelangen erstinstanzlichen Prozess in Avignon gelautet.
Nur einer bestand auf Berufung
Im vergangenen Dezember wurden alle 51 Angeklagten verurteilt: Die Hauptfigur Dominique Pelicot erhielt 20 Jahre Haft, seine Internetbekanntschaften Haftstrafen von drei bis 15 Jahren. 17 der 51 legten Berufung ein. 16 zogen sie zurück. Sie sahen spätestens nach dem Urteil ein, dass das, was sie getan hatten, unter den Tatbestand der Vergewaltigung fällt.
Ein Verurteilter ist in Nîmes aber da. Husamettin D. geht am Stock, er hinkt, da er unter Polyarthritis leidet. Der 44-jährige Bauarbeiter hat eine Frau und ein trisomes Kind. Er entspricht nicht so ganz dem Bild eines brutalen Schänders. Sein Ding waren Sexpartien in Swingerklubs. Als er der Einladung von Dominique Pelicot Folge leistete, dachte er an einen «flotten Dreier».
D. sagte im ersten Prozess, er habe gedacht, die Frau auf dem Ehebett spiele den schlafenden Part. Der Arbeiter machte sich über Gisèle Pelicot her, drang mehrfach in sie ein. «Sie ist ja tot!», entfuhr es ihm laut einem Video, das im Prozess nur ausgewählten Personen gezeigt wurde. Dominiqe Pelicot verneinte. Nach etwa einer Stunde liess D. frustriert ab; er zog sich an und verliess das Haus.
Diesmal entscheidet ein Geschworenengericht
Vor dem Gericht in Nîmes wird er an drei Tagen die gleichen Fragen beantworten müssen, die ihm schon in Avignon gestellt wurden. Warum verlangte er nie die Einwilligung von Gisèle Pelicot zu dem angeblichen «Sexspiel»? D. räumte bei seiner ersten Einvernahme ein, daran habe er gar nicht gedacht. Dass jede Form von sexueller Penetration in einen anderen Körper den Tatbestand der Vergewaltigung erfüllte, war ihm seinen Angaben zufolge ebenso wenig klar. Jetzt, da er das Strafrecht kenne, sei es ihm bewusst, sagte er 2024.
Aber D. sagte wie einige andere Angeklagte auch: «Ich bin kein Vergewaltiger.» Trotzdem erhielt er neun Jahre Haft. Das Gericht befand, dass D. «hätte merken müssen», dass die Frau betäubt war.
In zweiter Instanz wird nun ein Geschworenengericht entscheiden, kein Berufsgericht wie im ersten Prozess. Das mache die Sache nicht leichter für seinen Klienten, sagt sein nun zweiter Anwalt Marc Darrigade: «Mein Klient weiss, dass alle Blicke auf ihn gerichtet sind. Aber er fühlt sich nicht als Vergewaltiger. Er fühlt sich hereingelegt, verraten von Dominique Pelicot.»
Letzterer hat das Verdikt mit dem Höchststrafmass von 20 Jahren akzeptiert und auf die Berufung verzichtet. In Nîmes wird er nur als Zeuge aussagen müssen. Wenn er inzwischen nicht geläutert ist, wird er D. auf die gleiche Art anschwärzen, wie er es bereits in Avignon mit allen 50 Mitangeklagten getan hatte.