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Was in Grossbritanniens Politik gerade alles passiert – in 5 Punkten

In this grab taken from video from the House of Commons, Prime Minister Liz Truss speaks during Prime Minister's Questions in the House of Commons in London, Wednesday Oct. 19, 2022. (House of Co ...
Ihr Rücktritt scheint nach dem Chaos-Mittwoch eine Frage der Zeit: Liz Truss.Bild: keystone

Mobbing, Tränen und ein Rücktritt: Der britische Polit-Chaostag in 5 Punkten

In Grossbritanniens Politik geht es drunter und drüber. Die seit Wochen schwelende Regierungskrise hat sich am Mittwoch nochmals deutlich verschärft. Die Luft wird für Liz Truss dünner und dünner. Eine Übersicht.
20.10.2022, 06:3320.10.2022, 17:05
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Kapitel 1: Die Ausgangslage

Eigentlich ging man davon aus, dass sich die Regierung von Premierministerin Liz Truss nach der Ernennung von Jeremy Hunt zum neuen Finanzminister ein wenig stabilisiert hat und sie den Mittwoch ohne weitere Rückschläge übersteht. So gab sich Truss bei der wöchentlichen Fragestunde mit den Abgeordneten am Mittag auch trotzig und lehnte, wie schon in den Tagen zuvor, einen Rücktritt klar ab.

Truss hatte in den Wochen zuvor zusammen mit dem später entlassenen Finanzminister Kwasi Kwarteng fragwürdige Entscheidungen getroffen und ein Finanzchaos angerichtet. Nachdem Kwarteng gehen musste, ernannte Truss Jeremy Hunt zum neuen Finanzminister. Dieser machte beinahe alle getroffenen Änderungen am vergangenen Montag rückgängig, um die britische Wirtschaft zu stabilisieren.

Kapitel 2: Der Rücktritt von Suella Braverman

Am Mittwochnachmittag jedoch war es bereits wieder vorbei mit der vermeintlichen Ruhe. Es folgte nämlich der Rücktritt der Innenministerin, Suella Braverman. Offiziell trat Braverman zurück, weil sie gegen Datenschutzbestimmungen der Regierung verstossen hatte. Laut der BBC hat sie ein Regierungsdokument an eine Person geschickt, die dieses nicht hätte erhalten dürfen. In ihrem Rücktrittsschreiben bekundete Braverman denn auch, dass sie «einen technischen Fehler begangen» habe.

Doch es gibt mehrere Hinweise darauf, dass Braverman nicht aus freien Stücken ihr Amt abgegeben hat, sondern dass dies aufgrund von ziemlich ausgeprägten Meinungsverschiedenheiten geschah. Ein Indiz: Die ehemalige Innenministerin warf der Regierung vor, «wichtige Versprechen» gebrochen zu haben. Zudem habe sie grosse Bedenken, dass das Regierungsprogramm die grosse illegale Migration stoppen könne – ein wichtiges Anliegen von Braverman, die zum extremen rechten Flügel der Tories gehört.

Mit dem Rücktritt von Braverman verlor Truss damit das nächste Regierungsmitglied – nur eine Woche nachdem Finanzminister Kwarteng den Hut nehmen musste. Nachfolger von Bravermann wurde Grant Shapps – diesen hatte Truss ironischerweise vor einigen Wochen als Verkehrsminister entlassen.

Kapitel 3: Die Fracking-Abstimmung im Parlament

Der nächste Akt am Chaos-Mittwoch folgte unmittelbar. Im Parlament stand die Abstimmung über ein Verbot der Erdöl-Förderungsmethode Fracking an. Die oppositionelle Labour-Partei hatte einen entsprechenden Antrag gestellt. Laut der BBC sind auch zahlreiche Konservative gegen Fracking. Weil die Regierung diese Abstimmung aber kurz vorher zur Vertrauensfrage erklärt hatte, stimmten sie dennoch gegen den Antrag. Hätten sie sich nicht auf die Seite der Regierung gestellt, hätte ihnen womöglich der Ausschluss aus der Fraktion gedroht, so die Einschätzung der BBC.

Dabei gingen die Regierungsunterstützer offenbar alles andere als zimperlich vor. Mehrere Abgeordnete, auch Konservative, berichteten, dass sie im Vorfeld der Abstimmung «körperlich angegangen» worden seien.

Die Labour-Abgeordnete Anna McMorrin schrieb auf Twitter, dass sie beobachtet habe, wie ein konservativer Abgeordneter aufgrund der harten Vorgehensweise gar in Tränen ausgebrochen sei:

Kurz vor der Abstimmung ruderte die Regierung dann zurück und erklärte, dass das Votum doch nicht als Vertrauensfrage gilt. Das wiederum sorgte für noch grösseren Ärger in den eigenen Reihen (siehe Kapitel 4).

Auch die Abstimmung selbst ging in der Folge nicht ohne Nebengeräusche über die Bühne. Der Labour-Abgeordnete Chris Bryant erhob den Vorwurf, konservative Abgeordnete seien teilweise mit Schreien und Zwischenrufen in eine bestimmte Richtung gedrängt worden und hätten damit nicht frei und ungehindert abstimmen können. Letzten Endes wurde der Antrag der Labour-Partei klar verworfen – das Resultat schien aber im ganzen Getöse ohnehin zur Nebensache verkommen zu sein.

Kapitel 4: Die vermeintlichen Rücktritte in der Fraktionsspitze

Zu Ende war der Horror-Tag im Parlament damit aber noch nicht: Übereinstimmenden Berichten zufolge sollen die für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin zuständige Chefeinpeitscherin (Chief Whip) Wendy Morton und ihr Stellvertreter Craig Whittaker zunächst aus Frust über die Kehrtwende der Regierung bei der Frage, ob die Abstimmung als Vertrauensfrage gelte, hingeworfen haben. Nach einigen Stunden stellte sich dann aber heraus, dass beide doch weiterhin auf ihren Posten bleiben.

Kapitel 5: Die Folgen des Chaos-Tags

Die Luft für Liz Truss wird dünner und dünner. Mit dem absoluten Chaos am Mittwoch verlor sie weitere Akzeptanz im Parlament. Nicht einmal in den Brexit-Verhandlungen unter Theresa May ging es im britischen Parlament derart chaotisch zu und her wie aktuell.

Die Reaktionen verschiedener Abgeordneter liessen denn auch tief blicken. Der Konservative Charles Walker sagte gegenüber der BBC, man stehe vor einem «Scherbenhaufen», es sei eine «Schande». «So etwas wie heute Abend habe ich in meinen 17 Jahren im Parlament wirklich noch nicht gesehen», sagte er sichtlich erzürnt. Er fügte hinzu, dass es für die Regierung nun «kein Zurück» mehr gebe.

Auch aus der Bevölkerung werden die Rufe nach einem Rücktritt der Regierung Truss lauter und energischer. Auf Twitter bekam der seit Tagen kursierende Hashtag #TrussMustGo noch mehr Auftrieb.

Das Argument der verbliebenen Truss-Unterstützer ist, dass es innert derart kurzer Zeit schwierig sei, einen geeigneten Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu finden. Tatsächlich dürfte das auch der einzige Grund sein, weswegen Truss noch nicht definitiv zum Rücktritt gedrängt wurde. (con)

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.

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31 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Pat da Rat
20.10.2022 07:11registriert Mai 2022
Und ich dachte ernsthaft nach BoJo könne es kaum noch schlimmer kommen... dann kam Truss, dann ihr aus der Zeit-gefallens neo-liberales Gruselkabinett von Ministern, dann das unsägliche Mini-Budget, dann die ganzen Rücktritte. Die Tories sind sowas von am A*sch, keine wirklichen Nachfolger in Sicht... und fast noch schlimmer; weder Labour, noch LibDems, haben irgendeinen Plan oder brauchbare PM-Kandidaten. Nach dieser sh*tshow fühl mich schon fast bemüssigt mich bei BoJo für meine ständige Kritik an seiner clownshow zu entschuldigen; wenigstens war er der Ukraine ein verlässlicher Partner.
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Badener
20.10.2022 07:18registriert März 2017
Ich hoffe Sie geniessen Ihren Brexit.
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Kommissar Rizzo
20.10.2022 07:56registriert Mai 2021
Die Saat der Brexiteers.
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