Vor gut neun Monaten war die Lage deutlich: Bei den Wahlen zum Unterhaus im Juli 2024 errang die britische Labour-Partei einen Erdrutschsieg mit einer absoluten Mehrheit von 174 Sitzen. Ein dreiviertel Jahr später ist es mit der Popularität dahin und der erste grosse Wahltest für die neue Regierung und die Opposition hat angestanden.
In England finden an diesem Donnerstag Kommunalwahlen und eine Nachwahl zum Unterhaus statt. Schon vor Wahlausgang zeichnet sich ein Trend ab. Die einst grossen Volksparteien Labour und Konservative dümpeln bei etwas mehr als 20 Prozent. Die kleineren Parteien wie die Liberaldemokraten und die Grünen wachsen.
Und die einst unbedeutende, bei den letzten Unterhauswahlen erstmals mit 14 Prozent der Stimmen in Erscheinung getretene Reform-Partei steht vor einem Durchbruch. Die Rechtspopulisten von Nigel Farage führten zuletzt die Meinungsumfragen mit 26 Prozent an, dürfen also auf einen deutlichen Triumph hoffen und wollen jetzt die Konservativen als stärkste Oppositionskraft ablösen.
Rund 13,7 Millionen Wähler in England waren aufgerufen, 1641 Stadtratssitze zu füllen und über sechs Bürgermeisterposten zu entscheiden. Für die Konservativen wird der Urnengang zu einem zweiten Strafgericht werden, nachdem man im letzten Juli katastrophal verloren hatte.
Vor vier Jahren, als zum letzten Mal über diese Stadtratssitze abgestimmt wurde, hatten die Torys ein Spitzenergebnis eingefahren. Damals war Boris Johnson noch Premierminister und hatte soeben erfolgreich die Covid-Impfkampagne durchgeführt. Seitdem ging es mit den Konservativen bergab.
Der Skandal um Partygate in der Downing Street, die Regierungskrise aufgrund der Lügen von Johnson, das Wirtschaftschaos wegen der desaströsen Steuerpolitik der Kürzest-Premierministerin Liz Truss: All das hat das Ansehen der einst so erfolgreichen Tory-Partei gründlich desavouiert.
Der Groll in der Bevölkerung gegen die Konservativen sitzt tief, und gerade in den ehemaligen Hochburgen im Südwesten des Landes bietet sich mit den Liberaldemokraten eine Partei an, die für Ex-Tory-Wähler attraktiv ist. Von den knapp tausend Sitzen, die sie am Donnerstag verteidigten, dürften die Konservativen mehr als die Hälfte verlieren.
Der Grossteil davon sollte an Reform UK fallen. Die rechtspopulistische Partei hat sich seit Juli letzten Jahres, als man aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts mit 14 Prozent der Stimmen lediglich fünf Unterhaussitze erring konnte, kontinuierlich an die Spitze der Meinungsumfragen gespielt. Die Popularität von «Mister Brexit», Parteichef Nigel Farage, half dabei ebenso wie die weitverbreitete Politikverdrossenheit im Land.
Reform UK positionierte sich mit einer scharfen Anti-Immigrationslinie – Farage will jeden illegalen Einwanderer deportieren -, mit der Opposition gegen eine teure Klimapolitik und mit dem Lockruf von radikalen Steuersenkungen. Jetzt steht die Partei vor dem Durchbruch. Sie hofft auf mehr als 500 Zugewinne in den Stadträten, und das praktisch aus dem Stand, denn vorher hatte man lediglich eine Handvoll Mandate.
Was einst eine Protestpartei war, gelänge damit an die Hebel der Macht, wenn auch nur auf Kommunalebene, also den unteren Rängen. Aber Reform UK kann erstmals zeigen, ob man das Zeug zum Regieren hat. Und vor allem ermöglicht der Durchbruch den Rechtspopulisten, ihre lokale Infrastruktur auszubauen und zu befestigen, ohne die ja eine nationale Kampagne für die Unterhauswahlen in vier Jahren nicht zu gewinnen wäre.
Der wichtigste Test für die Regierungspartei wird der Ausgang der Nachwahl in Runcorne sein. Dort musste der Labour-Abgeordnete Michael Amesbury seinen Sitz aufgeben, nachdem er in einem Wutanfall einen Wähler zu Boden schlug und ihn mit Füssen trat.
Der Wahlkreis gehört zu den sichersten, die Labour hat, aber Reform darf sich gute Chancen ausrechnen, obwohl man bei der letzten Unterhauswahl mit 18 Prozent hinter Labour lag, die damals, im letzten Juli, noch 53 Prozent erzielen konnte. Sollte Reform den Sitz gewinnen, wird das Schockwellen in der Labour-Partei auslösen, denn weitere 86 Wahlkreise wären gefährdet, in denen Reform auf dem zweiten Platz hinter Labour liegt. (aargauerzeitung.ch)
War Barage nicht der, der sich nach dem Brexit rar gemacht hat?