Nach 14 Jahren konservativer Vorherrschaft steht Grossbritannien vor dem Wechsel. Wenn die rund 48 Millionen Wahlberechtigten auf der Insel nicht millionenfach die Demoskopen belogen haben und am Donnerstag doch anders einlegen, wird Keir Starmer am Freitag in die Downing Street einziehen.
«Wenn wir zum Dienst gerufen werden» – in keiner Rede des 61-Jährigen über die Vorhaben einer Labour-Regierung fehlt diese salvatorische Klausel, und fast alles spricht dafür, dass Starmer sie ernst meint. Politik als Dienst am Land: Dass diese Herangehensweise im Kontrast steht zum selbstsüchtigen Tollhaus, mit dem die Konservativen zuletzt die Briten entsetzt haben, muss er nicht eigens hinzufügen.
Die Regierungspartei unter Premier Rishi Sunak setzt dieser Tage scheinbar alles daran, dem Wahlvolk deutlich zu machen, wie abgewirtschaftet sie ist. Mit dem Slogan, er habe anders als die Sozialdemokraten einen Plan für die Zukunft, stellte sich Sunak bei der Wahlankündigung vor seinem Amtssitz in den strömenden Regen. Das verstärkte im Land der stets bei sich getragenen Regenschirme nicht gerade den Eindruck planmässigen Handelns. Nur einer von mehreren Patzern, mit denen es der Amtsinhaber dem Herausforderer leicht macht.
Dieser Tage hagelt es Enthüllungen über skandalöse politische Wetten: Offenbar haben mehrere Kandidaten auf die eigene Niederlage gesetzt, Sunaks engstes Umfeld wollte mit hohen Einsätzen auf den Wahltermin Geld machen. Die Aufsichtsbehörde ermittelt wegen Insidergeschäften.
Dem ernsten, betont vorsichtigen Starmer gereicht das Tory-Chaos zum Vorteil. Er verspricht wenig, jedenfalls deutlich weniger Veränderung, als sein Wahlslogan «Change» nahelegt. Keine Steuererhöhungen, aber mehr Geld fürs Gesundheitswesen, die Aufstockung der Streitkräfte, mehr Lehrerinnen und Polizisten - all dies würden die Briten auch von den Torys bekommen, jedenfalls wenn es nach den Programmen beider Parteien geht.
Der verbreiteten Verzagtheit über die wirtschaftliche Lage und dem Zynismus gegenüber Politikern dürfe man nicht mit schönen Versprechungen begegnen. «Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit», predigt Starmer gern, von seiner Regierung seien keine Wunder zu erwarten.
Begeisterung lässt sich so natürlich nicht erzeugen. Dass Starmer dennoch an der Schwelle der Downing Street steht, spricht für sein politisches Fortune. Denn bei seiner Wahl zum Parteichef im Frühjahr 2020 erbte er eine denkbar schlechte Ausgangslage. Unter seinem mittlerweile aus der Partei geworfenen Vorgänger Jeremy Corbyn hatte sich Labour eine schwere Niederlage eingefangen, im Unterhaus sassen so wenige Sozialdemokraten wie seit der Wahl 1935 nicht mehr.
In den dieser Tage erscheinenden Porträts der britischen Medien fehlt neben dem Wort «boring» (langweilig) nirgends eine zweite Vokabel: «ruthless», also je nach Kontext rücksichtslos oder sogar unbarmherzig. Letzteres gilt wohl auch im Umgang mit sich selbst. Beinahe empört reagiert Starmer auf die Frage, ob er jemals in Therapie gewesen sei. «Ich habe genug Selbsterkenntnis, um mich nicht mit Selbstgesprächen zu befassen», sagte er dem «Guardian». «Sie mögen das merkwürdig finden, aber für mich ist es wichtig, einfach weiterzumachen.»
Diesem Grundsatz getreu arbeitete Starmer, und langsam veränderte sich Labours Lage. Dann kam Partygate: In Johnsons Downing Street war reihenweise gegen jene Corona-Vorschriften verstossen worden, welche die Regierung den Bürgern zugemutet hatte. Der Lügenhaftigkeit im Unterhaus überführt, wurde der einst übermächtige Premier aus dem Amt gejagt, dem katastrophalen 49-Tage-Intermezzo Liz Truss folgte Sunak.
Mag sein, dass Starmer den langen Atem auf dem Fussballplatz gelernt hat. Der Provinzknabe verschenkte sein Herz an den Nordlondoner Prestigeclub Arsenal, den Oppositionsführer sah man häufig im Stadion oder in einem nahen Pub zur Live-Übertragung. Bis heute trifft er sich regelmässig mit Freunden zum Feierabendspiel auf Kunstrasen, beschreibt seine Position als «Mittelfeldspieler zwischen beiden Strafräumen» und schränkt dann schmunzelnd ein: «Meine Freunde sagen, so sei es vor zwanzig Jahren mal gewesen.»
Damals schickte sich der erfolgreiche Menschenrechtsanwalt gerade an, Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales zu werden. Erst seit 2015 gehört er als «sehr ehrenwerter» Abgeordneter für den innerstädtischen Wahlkreis Holborn und St.Pancras dem Unterhaus an, dessen Rituale und Traditionen ihm fremdgeblieben sind. Der künftige Premierminister ist von treuen Freunden umgeben und ruht in seiner Familie.
Dem Vernehmen nach sträubt sich Victoria Starmer, eine Anwältin im NHS, gegen den Umzug in die Downing Street, nicht zuletzt zum Schutz der beiden halbwüchsigen Kinder. Doch alles sieht danach aus, als würden ihnen die Briten diesen Dienst am Land abverlangen.
Die Tories haben die letzten paar Jahre zur genüge gezeigt das sie unfähig sind England zu regieren.