Seit 14 Jahren regieren die konservativen Tories Grossbritannien. Bei der heutigen Parlamentswahl könnte die Mitte-Links ausgerichtete Labour Party als Siegerin hervorgehen. Wie ist die Stimmung im Land?
Oliver Strijbis: Der heutige Tag wird zu 99 Prozent ein Desaster für die Konservativen. Premierminister Rishi Sunak hat seine Koffer hoffentlich schon gepackt. Die Wahlen werden denn auch eher als eine Niederlage der Tories gewertet als ein Sieg der Labour Party, auch wenn Keir Starmer vermutlich in die Downing Street ziehen kann. Denn die Bevölkerung im Vereinigten Königreich ist von der jetzigen Regierung enttäuscht.
In der Ära der Tories gab es einige Skandale. Etwa Boris Johnsons Privat-Party in der Corona-Pandemie, Liz Truss' 45-Tage-Amtszeit oder die jüngste Wett-Affäre rund um Mitarbeiter von Rishi Sunak. Haben die Briten genug von der Elite?
Die Wahlen sind sicher ein Votum gegen die Elite. Die Bevölkerung hat realisiert, dass die Konservativen nicht weniger elitär sind, als es damals der Labour-Premierminister Tony Blair war.
Wie zeigt sich das?
Für die britische Landbevölkerung und Arbeiterschaft sind die Tories durch ihre Skandale und ihre durchzogene Regierungsbilanz nicht mehr glaubwürdig. Boris Johnson konnte dieses Bild am Anfang seiner Amtszeit mit seiner populistischen Art noch aufrechterhalten. Aber die Wahrnehmung, dass Konservative volksverbundener wären als die Linken, ist absolut dahin.
Den Menschen in Grossbritannien bereiten steigende Lebenskosten, die Migration, eine sanierungsbedürftige Infrastruktur und das Gesundheitssystem Sorgen. Hat die Labour Party mit ihrem designierten Premierminister Keir Starmer bessere Lösungen bereit?
In Grossbritannien herrschen strukturelle Probleme, die es in vielen anderen westlichen Ländern gibt, speziell in Deutschland oder Frankreich. Alle Regierungen aus allen Parteispektren haben Mühe damit, diese zu lösen. Die Labour Party verspricht, mehr in den öffentlichen Sektor zu investieren, auch wenn das höhere Steuern mit sich bringt. Das ist glaubwürdiger als die Behauptung der Konservativen, der Markt werde alles regeln. Trotzdem kann man klar sagen: Im Land herrscht keine Labour-Euphorie.
Vielfach wird daran gezweifelt, dass Keir Starmer das Land voranbringen kann, zumal Grossbritannien massive Schulden hat. Wird er ein starkes Sparprogramm vermeiden können?
Starmer wird auf Steuererhöhungen statt Sparmassnahmen setzen, damit die Schulden nicht noch mehr steigen. Steuererhöhungen sind zwar auch nicht populär, aber die Ausgangslage ist schwierig und Alternativen sind rar.
Mittlerweile sind 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass es dem Land seit dem EU-Austritt wirtschaftlich schlechter geht. Würde es unter Starmer wieder zu einer Annäherung an die EU kommen?
Auffällig im Wahlkampf war, dass Starmer die Themen Brexit und die EU vermieden hat. Er setzt seine Hoffnung ganz darauf, mit Investitionen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Und Starmer hat angedeutet, dass er keine Reintegration Grossbritanniens in den europäischen Markt plant. Ein Teil seiner Partei wünscht sich das sicherlich. Aber ich erwarte nicht, dass es in dieser Hinsicht zu grossen Veränderungen kommt.
Es wird erwartet, dass viele Wählerinnen und Wähler auf Randparteien ausweichen, wie die Rechtspartei Reform UK, die eine strikte Anti-Einwanderungspolitik verfolgt. Geht es in Grossbritannien bald zu und her wie in Frankreich?
Bis zu einem gewissen Grad ist das bereits passiert. Noch besser vergleichen kann man die Entwicklung aber mit den USA: Wie die Republikaner sind auch die Tories stark nach rechts gerückt.
Könnten die Tories Wählerinnen und Wähler an extreme Parteien verlieren?
Sie werden sicher eine heftige Wahlniederlage erleben. Trotzdem bleiben sie die grösste Oppositionspartei. Es besteht keine Gefahr, dass sie überholt werden von einer Partei, die sich weiter rechts positioniert als sie. Aber die Polarisierung wird wohl auch in Grossbritannien weiter zunehmen.
Und wenn die "Linken" regierten, wählt das Volk die "Rechten".
So geht es ständig hin und her.
Und das Mühsame an dieser demokratischen Pendel-Bewegung ist, dass man sicht auf Nichts verlassen kann.
Mal werden Programme aufgezogen und Subventionen gesprochen. Dann schmeisst die Nachfolge-Regierung wieder alles um.
So geschehen mit der Solar- und Windkraft-Förderung in Deutschland, mit dem Resultat, dass nach der glanzvollen Führung und Entwicklung die ganze Industrie und die Jobs nach China verloren gingen...
Es gab viele Leute, die das wirklich glaubten. Man sollte nicht immer die Politik dafür verantwortlich machen, wenn einige Wähler den grössten Unsinn glauben.