International
Interview

Rechte Krawalle in Chemnitz: Johannes Grunert im Interview

Interview

«Es wird landesweit im Neonazimilieu mobilisiert» – das erwartet Chemnitz heute Abend

27.08.2018, 15:3327.08.2018, 16:03
Felix Huesmann / watson.de
Mehr «International»

Nach einer tödlichen Auseinandersetzung sind am Sonntag hunderte Menschen im ostdeutschen Chemnitz auf die Strasse gegangen. Rechtsextreme Demonstranten haben dabei offenbar Migranten gejagt und angegriffen, es kam zu Krawallen und Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Der freie Journalist Johannes Grunert hat die Krawalle dokumentiert. Er beobachtet die rechtsextreme Szene in der sächsischen Stadt schon lange. Die Grösse der Proteste hat ihn überrascht.

Was Grunert am Sonntag erlebt hat, erzählt er im watson-Interview.

Wer steckte hinter den Protesten?
Johannes Grunert: Der Aufruf kam von der Ultragruppe «Kaotic Chemnitz», die sich aus dem neonazistischen Kameradschafts-Milieu in Chemnitz rekrutiert. Ob noch wer anders mit dahintersteckt, ist mir bislang nicht ersichtlich. Die Organisation schien aber von dieser Gruppe auszugehen.

Wie liefen die Proteste ab?
Es fing damit an, dass sich etwa 500 Neonazis und Hooligans am Karl-Marx-Monument versammelt haben. Die Polizei hat dort versucht, einen Organisator, oder einen Anmelder ausfindig zu machen. Das hat aber nicht geklappt. Dann sind die Leute unvermittelt losmarschiert, die Polizisten wurden völlig überrumpelt. Die Spitze der Demo wurde von etwa 15 Beamten begleitet, die versucht haben, diesen riesigen Aufmarsch zu stoppen. Das ist denen natürlich nicht gelungen.

«Es gab vereinzelte Scharmützel, bis die Polizeikette irgendwann nachgegeben hat. Danach hat die Polizei den Aufmarsch zwar weiter begleitet, trotzdem konnte die Spitze der Demo Jagd auf Migranten machen.»

Irgendwann fingen etwa 300 Leute an, zu rennen, überrannten eine weitere Polizeikette und steuerten dann gezielt Orte an, an denen sich regelmässig Migranten treffen. An einem Park und einem Parkplatz hielten sich tatsächlich Menschen auf. Die wurden direkt mit Schlägen und Tritten angegriffen. Die Polizei war in der Situation sichtlich überfordert.

Zuvor hatte ja auch die AfD eine eigene Kundgebung abgehalten. Gab es Überschneidungen mit der zweiten Demonstration?
Ja, die gab es auf jeden Fall. Bei der AfD-Kundgebung waren neben dem üblichen, älteren «Pegida-AfD-Publikum» auch schon einige junge, sportliche Herren dabei. Die sich nach der AfD-Kundgebung weiter im Stadtzentrum aufgehalten und anschliessend an der anderen Demo beteiligt haben.

«Alleine, dass auch die AfD mobilisierte, dürfte die Aufmerksamkeit enorm gesteigert haben, sodass beide Versammlungen sicher voneinander profitierten.»

Der Messerangriff fand in der Nacht auf Sonntag statt. Am Sonntagnachmittag waren dann spontan bis zu 1000 Menschen auf der Strasse. Wieso liessen sich so schnell so viele Menschen mobilisieren?
Das ist in der Tat eine aussergewöhnlich grosse Zahl für Chemnitz. Wenn ich mich nicht irre, war das sogar der grösste rechte Aufmarsch der jüngeren Zeit in der Stadt. Bei lange angekündigten Demos kamen sonst höchstens 600 bis 800 Teilnehmer. Das Mobilisierungspotential ist jetzt so gross gewesen, weil dort auf die Solidarität der Fussball-Szene gepocht wurde. In der Chemnitzer Fussball-Szene ist eine latent rechte Einstellung vorhanden. Und wenn dann eine einigermassen präsente und seit zehn Jahren aktive Ultra-Gruppe aufruft, folgt da eine breite Masse.

Heute Abend geht es weiter. Rechtsextreme wollen erneut auf die Strasse gehen, auch eine antifaschistische Gegendemo ist angekündigt. Wie schätzt du die weiteren Entwicklungen im Laufe des Tages ein?
Das ist schwierig zu sagen, weil es solche Situationen in Chemnitz noch nicht gab. Das erinnert aber natürlich an die Krawalle in Heidenau, wo Neonazis auch am zweiten und dritten Tag randalierten. Anhand der bisherigen Mobilisierung werden es heute auf jeden Fall mehr Menschen, als gestern. 

«Ich denke, es ist nicht vermessen, dabei mit mehreren Tausend zu rechnen.»

Es haben sich jetzt schon mehrere Kader der Identitären Bewegung angekündigt und es wird bundesweit im Neonazi- und Hooligan-Milieu mobilisiert. Ich habe bislang beispielsweise gehört, dass Hooligans von Dynamo Dresden und Leute aus Cottbus und Dortmund anreisen wollen. Was die Polizei dagegen macht, steht natürlich in den Sternen, es ist aber zu befürchten, dass die das – wenn auch auf einem anderen Niveau als gestern – erneut unterschätzen.

Versteckte Kamera bei geheimem Neonazi-Treffen in Polen

Video: srf
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
139 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
öpfeli
27.08.2018 15:44registriert April 2014
Tragisch was da abgeht 😕
Ich werde Rassismus nie verstehen.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
Ökonometriker
27.08.2018 17:15registriert Januar 2017
Die Polizei muss die Sicherheit der Bevölkerung unbedingt sicherstellen und hart durchgreifen. Doch das ist Symptombekämpfung.
Armut und Arbeitslosigkeit erbrüten Extremismus. Und hier ist die Politik gefordert. Die Perspektivlosigkeit der Jugend ist an vielen Orten Europas ein Nährboden für Extremismus und wird uns sonst noch viel Leid bescheren.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
Siro97
27.08.2018 17:58registriert November 2017
NEIN zu Rassismus, Fremdenhass und Intoleranz. JA zu Liebe, Zusammenhalt, friedliches Zusammenleben und Toleranz.
00
Melden
Zum Kommentar
139
Tote nach Zyklon «Chido» im Indischen Ozean
In dem französischen Überseegebiet Mayotte im Indischen Ozean sind durch den Zyklon «Chido» mehrere Menschen ums Leben gekommen.

Es gebe Tote, sagte Frankreichs geschäftsführender Innenminister Bruno Retailleau am Samstagabend, doch wie viele es sind, könne man noch nicht sagen.

Zur Story