Am 24. Februar 2022 erwachte die Ukraine inmitten des Lärms von Explosionen und Flugabwehrsirenen – russische Truppen hatten das Land überfallen. In den Medien hat sich während des letzten Jahres daher viel um Panzer, Himars-Raketen oder politische Bündnisse gedreht. Doch im Krieg geht es vor allem um Menschen. Menschen, die durch den russischen Angriff alles verloren haben.
Zu ihnen gehört auch Liuba Mirsa, die in den ersten Kriegswochen zusammen mit ihren Kindern über die Grenze in die Republik Moldau geflüchtet ist. Dort unterstützt sie für die Schweizer Organisation Helvetas andere Menschen, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten.
Im Interview mit watson erzählt sie, welche Fluchtgeschichten sie besonders berühren, wie sie sich selbst über den Krieg informiert und ob sie jemals wieder heimkehren will.
Frau Mirsa, wie geht es Ihnen?
Liuba Mirsa: Gut, danke.
Sie lebten vor dem Krieg in der Ukraine und sind derzeit in der Republik Moldau. Wo wohnten Sie da?
Ich lebte in Korosten, einer kleinen Stadt, etwa 150 Kilometer westlich von Kiew.
Vor einem Jahr – am 24. Februar 2022 – hat die russische Armee die Ukraine überfallen. Wie ist Ihnen dieser Tag in Erinnerung?
Um etwa 5 oder 6 Uhr morgens hat mein Mann die ganze Familie wachgerüttelt: «Packt sofort eure Sachen!» Wir haben dann das Nötigste zusammengekramt, mit dem Ziel, die Stadt zu verlassen und vorübergehend bei den Grosseltern meines Mannes unterzuschlüpfen. Ich muss dazu sagen: Unsere Region war eine der ersten, die bombardiert wurden.
Sie sind also nicht sofort in die Republik Moldau geflüchtet, als die ersten Bomben gefallen sind?
Nein, zuerst ist die ganze Familie mit dem Auto zu den Grosseltern meines Mannes.
Warum haben Sie sich dann doch entschieden, über die Grenze zu flüchten?
Die russische Armee kam immer näher. Der Krieg kam immer näher. Denn in der Nähe des Dorfes, in dem die Grosseltern meines Mannes leben, gab es eine Militärbasis. Die russische Armee hat darum die ganze Region eingekreist, um diese Einrichtung anzugreifen. Als die Bomben dann einschlugen, hat es sich angefühlt, als ob die ganze Welt durchgeschüttelt würde.
Als Sie sich entschlossen haben, ausser Landes zu flüchten, muss das ja unglaublich gefährlich gewesen sein, wenn die ganze Region voll war mit russischen Soldaten?
Wir haben versucht, möglichst nicht aufzufallen gegenüber den russischen Soldaten, damit sie uns in Ruhe lassen.
Gab es Hürden, die Republik Moldau zu betreten?
Es gab eine unglaublich lange Schlange an der Grenze. Wir haben dann die Grenze zu Fuss überquert anstatt mit dem Auto – und sind einfach ins Land spaziert. Von da sind wir nach Palanca, wo meine Eltern leben. Palanca ist das östlichste Dorf der Republik Moldau und liegt kurz hinter der Grenze.
Auch Ihr Mann?
Nein, der musste zurückbleiben. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Ich machte mir grosse Sorgen um ihn. Er war übrigens ukrainischer Drohnen-Video-Produzent.
Wie unterscheidet sich Ihr Leben jetzt in der Republik Moldau von Ihrem Leben in der Ukraine?
Wir sind hier in Sicherheit, das ist die Hauptsache derzeit. Aber es ist schon so, vorher haben wir in einer Stadt gelebt, jetzt sind wir auf dem Land. Für meine Kinder versuche ich das Leben möglichst mit Routinen zu füllen: Wir stehen gemeinsam auf, danach gehen meine Kinder in den Kindergarten und die Schule. Für die Kinder ist hier alles anders. Und das, obwohl meine Kinder nicht nur Ukrainisch, sondern auch Rumänisch sprechen – meine Muttersprache.
In der Republik Moldau arbeiten Sie für die Schweizer Hilfsorganisation Helvetas und kümmern sich um andere ukrainische Geflüchtete. Was machen Sie genau?
Bereits nach wenigen Tagen hier habe ich begonnen, als Koordinatorin zu arbeiten. Ich empfange Menschen, die über die Grenze geflüchtet sind, an der Busstation und versorge sie mit ersten Informationen und Hilfe – mit allem, was sie dringend benötigen. Vor allem Mütter mit ihren Kindern und ältere Leute oder Menschen mit Behinderungen können wir so unterstützen.
Und was für Hilfe benötigen die Geflüchteten am häufigsten?
Einen Ort, um sich auszuruhen und sich ein wenig zu erholen. Wir fragen die Menschen nicht aus oder so, denn die meisten sind unglaublich gestresst und manche traumatisiert. Wir sind einfach für sie da, wenn sie uns brauchen. Zudem organisieren wir den Transport in die Hauptstadt Chișinău und bringen sie in Aufnahmezentren oder bei Gastfamilien unter.
Haben die Geflüchteten, die Sie heute betreuen, andere Bedürfnisse als diejenigen, die vor einem Jahr geflüchtet sind?
Ja. Am Anfang wussten die Menschen nicht, wohin sie gehen sollen. Es gab so viele Unsicherheiten. Heute wissen die meisten genau, wie die Reise weitergehen soll. Für sie müssen wir ganz andere Informationen bereithalten. Und: Zu Beginn kamen die Menschen aus der ganzen Ukraine, heute stammen sie vorwiegend aus der Zentralukraine und dem Osten.
Erzählen Ihnen die Menschen von ihrer Flucht durch das Kriegsgebiet? Gibt es ein Problem, das fast alle haben?
Die Menschen haben ihre Ausweise und Pässe nicht mehr. Oder sie wissen nicht, welche Ausweise sie benötigen, um über die Grenzen zu kommen – oder die Militärkontrollpunkte im Land zu passieren.
Sie haben selbst Unvorstellbares durchgemacht. Aber gibt es Fluchtgeschichten, die Sie besonders berührt haben?
Ja, die gibt es durchaus. Vor allem die Geschichten von alten Menschen berühren mich sehr. Viele von ihnen haben ihr ganzes Leben hart gearbeitet, um sich den Traum eines eigenen Hauses zu erfüllen – das nun durch den Krieg komplett zerstört wurde. Diese Menschen haben häufig alles verloren. Sie werden im hohen Alter wieder irgendwie Geld verdienen müssen, um sich ein Dach über dem Kopf bauen zu können.
Eine ganz andere Frage: Wie informieren Sie sich eigentlich über den Krieg in der Ukraine?
Das ist schwierig. Ich habe keine sichere Informationsquelle. Ich kenne die Geschichte der Menschen, denen wir helfen. Abgesehen davon muss ich mich auf die Medien verlassen – aber die sind teilweise vom Staat kontrolliert. Die komplette Wahrheit kennt wohl niemand.
Wenn der Krieg vorbei ist, werden Sie in die Ukraine zurückkehren?
Nein. Denn ich will, dass meine Kinder in einem intakten Staat aufwachsen können. Und es wird Jahre gehen, bis die Ukraine wieder auf das Level kommt, das wir vor dem Krieg hatten.