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Interview

Das sagt Kriegsreporter Kurt Pelda zur ukrainischen Offensive

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«Einige ukrainische Soldaten halten den Vorstoss nach Russland für verrückt»

Kurt Pelda sagt im Interview, was das Ziel der ukrainischen Offensive in der russischen Region Kursk ist – und was er selber in der eroberten Region gesehen hat. Und er erzählt, wie er beinahe getötet worden ist.
28.08.2024, 05:0629.08.2024, 17:22
Patrik Müller / ch media
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Am Montag hat Russland einen der grössten Angriffe auf die Ukraine seit Kriegsbeginn ausgeführt. Wie hast du diesen Tag erlebt?
Kurt Pelda: Ich halte mich gerade im Osten der Ukraine auf, und hier war der Tag nicht aussergewöhnlich. Die Front ist in der Nähe, und es gibt fast täglich Angriffe. Das Besondere an diesem Montag war der massive Angriff auf die Energieinfrastruktur in mehreren Teilen der Ukraine mit mehr als 200 Marschflugkörpern und Drohnen. Es ist wichtig, diesen Angriff in Relation zu setzen: Schon im Frühjahr wurden grosse Teile der Energieinfrastruktur angegriffen und zum Teil zerstört.

PElda in der Ukraine
CH Media-Kriegsreporter Kurt Pelda in Sudscha im russischen Oblast Kursk.Bild: AZ/Raimond Lüppken

Ist der Grossangriff eine Rache für den Vorstoss der Ukraine auf russisches Territorium in der Region Kursk? Es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass Russland fremde Truppen auf seinem Boden hat.
Russland hat damit sicherlich auf diese Offensive reagiert. Das heisst aber nicht, dass der jüngste russische Grossangriff ausgeblieben wäre, wenn die Ukraine nicht in die Region Kursk vorgestossen wäre. Russland greift oft im grossen Stil an, um das ukrainische Luftabwehrsystem zu überwältigen. Wenn die Russen nur zehn oder zwanzig Raketen abschiessen, werden die meisten von den Ukrainern abgefangen. Aber bei Hunderten Raketen ist das fast unmöglich.​

Es war erstaunlich, wie es der Ukraine gelang, innerhalb von zwei, drei Wochen 900 Quadratkilometer Territorium in Russland zu besetzen. Geht die Offensive noch weiter?
Die ukrainische Offensive scheint jetzt weitgehend gestoppt zu sein. Russland hat mittlerweile Einheiten in den betroffenen Regionen stationiert, zum Teil sogar Truppen, die vorher in der Ukraine eingesetzt wurden. Trotzdem: Der Vorstoss ist sehr bemerkenswert und wurde von niemandem erwartet.​

Wie denkt die ukrainische Bevölkerung darüber?
Ich habe im Donbass kritische Stimmen gehört. Einige ukrainische Soldaten halten die Invasion für eine verrückte Idee. Sie sagen: Die Bestände, die jetzt in Kursk eingesetzt werden, bräuchten sie hier, auf ukrainischem Boden. Die Lage im Donbass ist sehr schwierig. Es handelt sich um einen opferreichen Stellungskrieg.

Was heisst das für die Ukrainer?
Sie stehen vor einer schwierigen Wahl: Entweder sie geben Terrain auf oder sie kämpfen weiter und nehmen viele Tote in Kauf. Viele Soldaten sind erschöpft und desillusioniert. Insgesamt wird die Offensive aber in der ukrainischen Bevölkerung und Armee positiv gesehen. Sie hat die Moral verbessert. Die Diskussion über mögliche Verhandlungen oder Konzessionen an Russland ist weitgehend verstummt.​

PElda in der Ukraine
Bild: AZ

Was sind die Ziele dieser Offensive?
Einerseits geht es um Symbolik. Der Vorstoss ist eine Demütigung für die russische Armee. In einer Stadt, die zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegt, haben die Ukrainer in die Agenda eines geflüchteten russischen Coiffeurs geschrieben: «Wo ist eure Armee?» Die Ukrainer wollen den Russen und der Welt zeigen: Wir sind noch lange nicht geschlagen. Andererseits besteht ein konkretes Ziel darin, russische Truppen von anderen Frontabschnitten abzuziehen und deren Angriffskraft in der Ostukraine zu schwächen. Das Schaffen einer Pufferzone soll weitere Angriffe auf ukrainisches Territorium verhindern.​

Inwiefern ist die Kontrolle über russisches Gebiet für die Ukraine von Vorteil, wenn es dereinst um Friedensverhandlungen geht?
Den grössten Einfluss auf die Verhandlungssituation hat ganz klar die militärische Lage. Wenn man sich, wie die Ukrainer in den letzten neun Monaten an der Ostfront, überwiegend auf dem Rückzug befindet, hat man eine schlechtere Ausgangslage. Umgekehrt ist man im Vorteil, wenn man an einem Frontabschnitt Erfolge erzielt und den Gegner unter Druck setzt – wie die Ukrainer jetzt in der Region um Kursk. Diese Gegend, zu der auch ein Kernkraftwerk gehört, ist für Russland von strategischer Bedeutung. Das stärkt möglicherweise die Position der Ukraine in zukünftigen Verhandlungen.

Putin hat das vor zwei Wochen in einem TV-Auftritt bestritten.
Er lehnt bisher jede Form von Verhandlungen ab. Nach der ukrainischen Offensive erst recht. Er erklärt, er werde nicht mit «Terroristen» verhandeln. Ich denke, dass es frühestens nach der Machtübernahme eines neuen US-Präsidenten oder einer neuen Präsidentin im kommenden Jahr Versuche für Verhandlungen geben könnte. Eine mögliche Fortsetzung der Gespräche, wie sie auf dem Bürgenstock noch ohne Russen stattgefunden haben, wäre dann denkbar.​

Wird die Ukraine die Region Kursk noch länger kontrollieren?
Ich habe Fahrzeuge gesehen, die mit «Militärkommandantur» markiert waren. Das deutet darauf hin, dass die Ukraine plant, länger dort präsent zu sein. Zudem wird in der Region auch humanitäre Hilfe an die wenigen verbliebenen Zivilisten verteilt. Dass man das uns Journalisten so zeigt, hat natürlich auch Propaganda-Charakter. Aber die russischen Bewohner erhalten tatsächlich Essen und Trinkwasser. Die Situation um Kursk ist äusserst schwierig: Es gibt kein Gas, keinen Strom und kein fliessendes Wasser. Die Ukraine ist daran, in diesen eroberten Gebieten praktisch eine rudimentäre Parallelstruktur zum russischen Staat aufzubauen.​

Hat die Ukraine auch Gefangene gemacht?
Ja, wohl ein paar Hundert. Viele russische Kriegsgefangene werden später gegen gefangen genommene Ukrainer ausgetauscht. Es gibt Bilder von ukrainischen Gefangenen, die aus Russland zurückkehren und in einem schlimmen Zustand sind. Sie sehen ähnlich aus wie KZ-Überlebende am Ende des Zweiten Weltkriegs. Das betrifft sicher nicht alle. Aber es gibt klare Anzeichen von Folter, Hunger und Krankheiten wegen mangelnder medizinischer Versorgung. Es ist daher ein grosses Anliegen der Ukraine, ihre Leute zurückzuholen. Wenn sie jetzt russische Gefangene macht, hilft ihr das.

Gehen die Russen auf solche Tausch-Deals ein?
Teilweise, ja. Allerdings sehen die russischen Behörden die in der Ukraine gefangenen Landsleute oft als Verräter. Mithilfe des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes werden regelmässig Gefangene der beiden Seiten ausgetauscht.​

Die Ukrainer müssen sich auf russischem Boden zivilisierter verhalten als umgekehrt die Russen in der Ukraine. Sonst verlieren sie die westlichen Verbündeten. Warum haben sie diese über ihre Kursk-Offensive nicht vorinformiert?
Die Ukrainer sind in der Zusammenarbeit vorsichtiger geworden. Es gab Fälle, in denen Informationen, die sie den westlichen Verbündeten mitgeteilt haben, durch Spionage oder Abhöraktionen direkt nach Russland weitergeleitet wurden. Dies hat dazu geführt, dass die Ukraine nun sehr sorgfältig auswählt, was sie den Amerikanern und anderen Verbündeten mitteilt. Es ist den Ukrainern diesmal gelungen, alles geheim zu halten. Derzeit gibt es Gerüchte über eine weitere ukrainische Offensive, möglicherweise an einer Stelle, wo die russischen Truppen geschwächt sind. Es könnten noch einige Überraschungen folgen.​

An allen Fronten kann die Ukraine aber nicht gleichzeitig kämpfen. Wird sie am Ende den Donbass – oder Teile davon – preisgeben?
In einem pessimistischen Szenario wäre das so: Die ukrainische Führung hätte sich demnach entschlossen, am Ende bestimmte Gebiete aufzugeben. Das würde bedeuten, dass sich die Ukrainer zwar weiterhin verteidigen, aber schrittweise zurückziehen und besonders heftig umkämpfte Regionen den Russen überlassen. Wenn die Verluste zu hoch werden, könnte das eine strategische Entscheidung sein. Ich sehe dieses Szenario zurzeit jedoch als nicht sehr wahrscheinlich an. Es sind noch Hunderttausende Menschen in diesen umkämpften Gebieten, und die Ukraine scheint sich weiter auf intensive Kämpfe vorzubereiten.

Inwiefern könnte es noch Überraschungen geben?
Der Ukraine stellt sich die Frage, wo sie ihre Ressourcen einsetzen sollte. Vielleicht besteht der Plan darin, den Feind vermehrt dort zu schwächen, wo – anders als im Donbass – sichtbare Erfolge möglich sind. Dies könnte dazu führen, dass die russischen Truppen umdisponieren müssen.​

Zum Schluss eine persönliche Frage. Du hast dein Reporterauto mit einem System zur Drohnenabwehr ausgerüstet. Ist der Krieg für Journalisten gefährlicher geworden?
Ja, eindeutig. Die Veränderung hängt auch mit den Drohnen zusammen. Einmal wäre ich um ein Haar von einer Artilleriegranate getroffen worden, nachdem mich eine russische Aufklärungsdrohne gesehen hatte. Es gibt aber auch sogenannte Kamikaze-Drohnen, die auf Fahrzeuge abzielen und diese zerstören können. Solche Drohnen werden immer häufiger eingesetzt. Es ist daher keine dumme Idee, am Auto einen Störsender zu installieren, um Drohnen von ihrem Kurs abzulenken. Viele ukrainische Fahrzeuge sind inzwischen damit ausgestattet, und das kann Leben retten.​

Am Samstag wurden zwei Reuters-Journalisten bei einem russischen Raketenangriff verwundet, eine weitere Person starb. Sind Journalisten Zufallsopfer?
Es gibt durchaus gezielte Angriffe auf Journalisten. In einer früheren Phase wurde auch ein Fotograf aus der Westschweiz angegriffen. Inzwischen gibt es mehr und mehr Beispiele für Anschläge auf Journalisten. Die Russen versuchen oft herauszufinden, wo Journalisten untergebracht sind, und attackieren dann diese Orte. Ich bin seit mehr als einem Jahr in diesen gefährlichen Regionen unterwegs und musste lernen, wie man sich schützen kann.​

Was hilft nebst dem Drohnenschutz des Autos?
Wichtig ist, dass man nicht in grossen Gruppen unterwegs ist. Journalisten, die in Konvois reisen, sind auffälliger und weniger flexibel. Es ist oft klüger, sich aufzuteilen und unterschiedliche Unterkünfte zu wählen. Hotels mit einem gewissen Standard sind ebenfalls risikoreich, weil die Russen erwarten, dass westliche Journalisten nicht in Billigunterkünften übernachten. Ich halte mich darum oft in Privatwohnungen auf. (aargauerzeitung.ch)​

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108 Kommentare
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Garp
28.08.2024 06:09registriert August 2018
Ich habe auch eine Reportage gesehen, da beklagten sich Soldaten in Pokrowsk, dass sie zu wenig Munition haben.
Die Ukraine braucht dringenst mehr Unterstützung.
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Rivka
28.08.2024 07:08registriert April 2021
Danke für dieses Interview und Ihre Arbeit Herr Pelda. Bitte geben Sie acht auf sich.
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Überlegt
28.08.2024 07:34registriert Februar 2024
Selenskyj hat von Putin gelernt. Nimm dir ein Faustpfand (Geiseln, hier Land) und verhandle auf Augenhöhe. Wir werden sehen, ob Putin zu seinen Vorbedingungen noch steht, dass die besetzten Gebiete nicht verhandelbar sind.
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