Während ukrainische Truppen in der Oblast Kursk mittlerweile auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen sind, rücken die russischen Invasoren im Donbass langsam, aber unablässig vor. Nur eine Randnotiz in diesem verlustreichen Ringen war diese Woche die Einnahme einer ukrainischen Ortschaft in der Oblast Donezk durch russische Truppen: Нью-Йорк (englisch New York, deutsch je nach Transkription Niu-York, Nju-York oder Nju-Jork) wurde nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums am 20. August erobert.
Gleich nebenan ist das lang umkämpfte "Niu-York" sowie die meisten anliegenden Anhöhen gefallen. In eine langsame Einkesselung fallen mindestens zwei weitere Ortschaften süd-westlich davon.
— Nikita Gerassimow (@NikGerassimow) August 21, 2024
Nord-östlich sollen erste russische Sturmtruppen in Torezk eingedrungen sein.
(17/25) pic.twitter.com/Ug7bCvejeN
Der ungewöhnliche Name der Kleinstadt, die vor dem Krieg rund 10'000 Einwohner hatte, lässt aufhorchen: Wie kommt eine Ortschaft in der Ukraine zu diesem Namen? Ganz abschliessend geklärt ist die Frage nicht, und über die Herkunft der Ortsbezeichnung kursieren im Donbas zahlreiche Legenden.
Eine davon besagt, der Ort sei um 1890 nach seinem berühmten Namensvetter an der amerikanischen Ostküste benannt worden, und zwar durch einen gewissen Jakob Unger. Dieser deutschstämmige Mennonit – Mennoniten sind eine protestantische Glaubensgemeinschaft – sei während eines Aufenthalts im echten New York in den 1880er-Jahren derart von der Industrie in der US-Metropole beeindruckt gewesen, dass er sein eigenes «New York» in der Steppe aufbauen wollte. Unger war Unternehmer und gründete später in der Ukraine in der Tat eine Ziegelei.
Eine weitere Legende macht einen anderen Unternehmer, Jakob Niebur, für die Wahl des Namens verantwortlich. Niebur soll den Ort – ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts – zu Ehren seiner Frau, die aus dem Bundesstaat New York stammte, so benannt haben.
Diese beiden Hypothesen können jedoch nicht stimmen, da der Name bereits um 1863 belegt ist: Er taucht in einem Ortsregister der Provinzregierung auf, in dem «Niu-York» als Weiler mit 85 Einwohnern und einer Manufaktur aufgeführt ist. Dies legt der Historiker Bruno De Cordier von der belgischen Universität Gent in einem Beitrag auf der niederländischen Website «Historiek» dar.
Offiziell erhielt der Ort seinen Namen allerdings tatsächlich erst um 1891. Zuvor lautete die offizielle Bezeichnung Nemetskaja kolonija № 4 (Deutsche Kolonie Nr. 4). Kurz vor der Jahrhundertwende hatte Niu-York beinahe 4600 Einwohner und bildete das Zentrum einer deutschen Kolonie, die auch die Dörfer Kronstadt, Leonidowka, Romanowka und Katerinowka umfasste. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Niu-York eine florierende Siedlung, die über ein Telegrafenamt, eine Bank, eine Buchhandlung, ein Hotel, eine grosse Maschinenfabrik und eine Schule für Jungen und Mädchen verfügte.
Die deutschen Siedlungen in dieser Region gehen auf das späte 18. Jahrhundert zurück: Die Zarin Katharina die Grosse, die selbst aus Deutschland stammte, erliess bald nach ihrer Machtergreifung 1762 ein Edikt, das die Ansiedlung von Ausländern im Land gestattete. Eine erste Welle von deutschen Siedlern kam kurz darauf ins Land; sie wurden jedoch mehrheitlich im Wolgagebiet bei Saratow angesiedelt. Das zweite Hauptsiedlungsgebiet war das nördliche Schwarzmeergebiet, das Katharina II. in mehreren Kriegen dem Osmanischen Reich entrissen hatte. Deutsche Siedler strömten ab 1787 in diese Gegend, die heute überwiegend auf ukrainischem Staatsgebiet liegt.
Viele der Siedler in der Südukraine waren Mennoniten, deren protestantische Arbeitsethik ihnen den Ruf verschaffte, «tüchtige Landwirte» zu sein. Sie liessen sich insbesondere in den Provinzen Cherson, Taurien und im Gebiet um Alexandrowsk (heute Saporischschja) nieder. Die Bedingungen hier waren günstiger als im Wolgagebiet, und die deutsche Minderheit florierte: Nicht wenige Siedler konnten sich im Laufe der Zeit als erfolgreiche Unternehmer etablieren.
Die erste der mennonitischen Kolonien, die von Siedlern aus Westpreussen (heute Polen) und den Niederlanden gegründet wurde, war Chortitza. Sie wurde 1789 nordwestlich der Dnipro-Insel Chortyzja angelegt und liegt heute zum grössten Teil auf dem Stadtgebiet von Saporischschja. Die Siedlung, die etwa 20 Dörfer umfasste, blühte nach anfänglichen Schwierigkeiten auf und die Bevölkerung nahm zu, sodass im 19. Jahrhundert Tochterkolonien gegründet wurden.
So kaufte die Gemeinde Chortitza in den 1870er-Jahren 35'000 Hektar Land entlang des Flusses Krywyj Torez im westlichen Donbas und 244 Familien zogen darauf in dieses Gebiet und gründeten das Dorf Nju-York. Da dieser Name aber – wie erwähnt – bereits früher belegt ist, ist anzunehmen, dass dort schon vor Ankunft der Mennoniten aus Chortitza eine deutsche Siedlung bestand.
Die wohl plausibelste These über die Herkunft des Ortsnamens ist daher, dass deutsche Siedler ihre neue Heimat nach ihrem Herkunftsort benannten, allenfalls mit dem Zusatz «Neu» versehen. Dies war in der Tat eine verbreitete Praxis, wie viele Ortsnamen in der Ukraine – aber auch beispielsweise in den USA, und ebenso bei Schweizer Auswanderern – zeigen. Der Herkunftsort in diesem Fall könnte das niedersächsische Jork bei Hamburg gewesen sein. Die neue Siedlung im Osten wäre demnach Neu-Jork benannt worden, aus dem dann – möglicherweise in Anspielung auf die amerikanische Weltstadt – allmählich Nju-York wurde.
Wie dem auch sei, jedenfalls trug der Ort diesen Namen bis 1951. Dann, im Kalten Krieg, erschien es nicht mehr opportun, dass ein Ort in der Sowjetunion denselben Namen trug wie die erzkapitalistische Millionenstadt in den USA. Nju-York wurde in Nowhorodske (ukrainisch Новгородське) umbenannt und trug diesen Namen 70 Jahre lang, bis es 2021 auf Beschluss der Werchowna Rada seinen ursprünglichen Namen Nju-York zurückerhielt.
>>> Hier gibt es eindrückliche Bilder aus Nju-York im Jahr 2017.
"Deutsche[n] Kolonien" in Anführungszeichen, weil es einen deutschen Nationalstaat damals ja gar nicht gab. Als Katharina die Grosse (eine Deutsche) die Gegend erobert hatte, lud sie Siedler aus deutschsprachigen Gebieten zur Kolonisation ein. Die Siedler erhielten happige Steuervorteile, wenn sie sich in Russlands frischen Eroberungen ansiedelten. Auch Schweizer - bis in den Kaukasus.
Heute verwüstet Putin das Gebiet mit seinem brutalen Beute- und Säuberungskrieg.