Die Hamas hat am Samstag mehrere Angriffe gegen Israel gestartet. Die Kämpfer gehen äusserst brutal gegen Zivilisten vor. Sie erschiessen Menschen auf offener Strasse, nehmen Geiseln, beschiessen Israel mit Raketen. Trotzdem gibt es viele Staaten, inklusive der Schweiz, die die Hamas bisher nicht als Terrororganisation eingestuft haben. Weshalb?
Margret Johannsen: Aus meiner Sicht ist die Hamas definitiv eine Terrororganisation. Warum die Schweiz die Hamas noch nicht als solche eingestuft hat, darüber kann ich nur spekulieren. Ich vermute, es hängt mit dem Schweizer Neutralitätsverständnis zusammen. Ansonsten gibt es aber einige Staaten, in denen die Hamas gewisse Sympathien geniesst. Etwa in Afrika oder im arabischen Raum. Dies, weil sie als eine Organisation angesehen wird, die sich nicht dem Diktat des Westens unterwirft.
Manche Expertinnen und Experten vermuten, dass die Hamas vom Iran unterstützt werden. Was sagen Sie dazu?
Ich weiss es nicht mit Sicherheit, aber ich glaube nicht, dass der Iran hinter der Hamas steckt. Aus meiner Sicht ist die Hamas ein autonomer Akteur in Palästina.
Inwiefern besitzt die Hamas den Rückhalt der palästinensischen Zivilgesellschaft?
Die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation, sie ist gleichzeitig auch die Regierung des palästinensischen Gazastreifens. 2006 haben die Palästinenser dort die Hamas gewählt. Seither regiert die Terrororganisation aber mit eiserner Hand und hat erneute Wahlen nicht zugelassen. Es hat in der Vergangenheit immer wieder Palästinenser gegeben, die die Hamas öffentlich kritisierten und auch heute gibt es diese Kritiker noch. Sie sind allerdings nur ein ganz kleiner Teil der palästinischen Bevölkerung. Denn mit ihrer Kritik setzen sie ihr Leben aufs Spiel.
Und wie steht der Rest der Bevölkerung zur Hamas?
Sie ist zwiegespalten. Eigentlich ist die Hamas Israel militärisch komplett unterlegen. Trotzdem hat sie es in diesen Tagen geschafft, extrem viel Leid und Zerstörung in Israel zu verursachen. Das löste bei vielen Palästinensern einerseits eine gewisse Genugtuung aus, da sie selbst all die Jahre die Unterdrückung Israels zu spüren bekommen haben und viele Palästinenser durch die israelische Armee ums Leben gekommen sind. Viel, viel mehr als Israelis. Jahrelang haben sie sich gegenüber Israel schwach gefühlt. Nun, durch diese Angriffe, fühlen sie sich auch einmal stark. Das imponiert durchaus vielen.
Und andererseits?
Andererseits geht Israel nun umso härter gegen die Hamas vor, ebenfalls ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung. Dabei wünscht sich die grosse Mehrheit der Palästinenser einfach endlich Frieden. Sie haben derzeit aber nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie verschanzen sich jetzt in ihren Bunkern und akzeptieren so das brutale Vorgehen der Hamas, oder sie gehen auf die Strasse, stellen sich gegen die Terrororganisation und riskieren so ihr Leben.
Wie hat es die Hamas überhaupt geschafft, einst gewählt zu werden?
Auch eine Terrororganisation muss gewissermassen «Gutes» tun, um die Bevölkerung auf ihre Seite ziehen zu können. In der Vergangenheit hat die Hamas darum beispielsweise dafür gesorgt, dass die knappen Ressourcen im Gazastreifen gerecht verteilt werden, dass die Elektrizität, die Versorgung funktioniert. Sie haben sich im Grunde als Organisation erwiesen, die die Zivilbevölkerung und ihre Anliegen unterstützt. Aber die Hamas hat eben – so wie viele Terrororganisationen – zwei Gesichter. Sie geht nicht nur gegen Israel mit Brutalität und Gewalt vor, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung, wenn diese aufbegehrt.
Ist ein Frieden im Nahen Osten nun in noch weitere Ferne gerückt?
Das ist eine schwierige Frage. Die Tatsache, dass es jetzt so eskaliert ist, ist vielleicht ein Weckruf an die internationale Gemeinschaft, zu reagieren. Bisher hat der Westen die Besatzung und die Menschenrechtsverletzungen Israels ja einfach akzeptiert oder zumindest nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert. Mit der Eskalation steigt unter den Palästinensern nun die Hoffnung, dass die Friedensbestrebungen mit internationaler Hilfe wieder aufgenommen werden.
Wie könnte ein solcher Frieden aussehen?
Ziel wäre eigentlich immer noch eine Zweistaatenlösung. Aber ich weiss nicht, ob es dafür nicht schon zu spät ist. Auch eine Einstaatenlösung, in der beide Völker auf Augenhöhe und in gegenseitigem Respekt zusammenleben, wäre möglich. Dafür müsste man jedoch die Friedensbewegungen in Palästina und in Israel gleichzeitig stärken. Nur auf diese Weise könnte diese furchtbare Eskalation vielleicht am Ende noch etwas Gutes mit sich gebracht haben.
Dann wünscht sich auch die israelische Zivilbevölkerung ein friedliches Zusammenleben?
Teile davon, ja. Leider ist es nun mal so, dass in Israel derzeit eine hochproblematische Regierung an der Macht ist. Eine rechtsradikale Regierung, die das ganze Westjordanland annektieren will und möglicherweise noch darüber hinaus Jordanien. Diese rechtsradikale Regierung hat das israelische Volk gewählt. Nur so konnte sich Israel überhaupt in ein Land entwickeln, das nicht von der Besatzung palästinensischen Gebiets ablassen will.
Bis zu einem gewissen Grad hat also das israelische Volk diesen Weg eingeschlagen.
Ja. Und trotzdem gibt es in Israel noch sehr viele Menschen, die diese Politik ihrer Regierung bedauern, kritisieren und sich auch auf politischer Ebene für Frieden einsetzen. Freunde von mir sind beispielsweise völlig verzweifelt über den Weg, den die israelische Politik, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung, eingeschlagen hat. Ich verstehe diese Verzweiflung gut. Ich kann nur hoffen, dass diejenigen, die Frieden wollen, nicht aufgeben werden.
Auf der Suche nach einem Experten oder einer Expertin für dieses Interview hätte ich eigentlich auch gerne mit Palästinenserinnen oder Palästinensern aus der Wissenschaft gesprochen. Bei der Suche merkte ich aber, dass diesen nicht selten Antisemitismus vorgeworfen wird. Teilweise sicher zu Recht, weil sie etwa den Holocaust relativieren oder leugnen. In anderen Fällen konnte ich den Vorwurf aber nicht nachvollziehen. Was sagen Sie dazu?
Das glaube ich. In Deutschland ist man besonders vorsichtig bei diesem Thema. Dies wegen unserer Vergangenheit, wegen des Holocausts. Ich beschäftige mich schon jahrzehntelang mit dem Nahost-Konflikt. In dieser Zeit habe ich mich immer sehr um eine nüchterne Sprache bemüht, weil ich weiss, dass man dem Antisemitismus-Vorwurf nur entgehen kann, wenn man sich wirklich sehr neutral artikuliert. Ich habe auch Herz. Aber in meinen Schriften spielt das Herz keine Rolle, sondern nur der Kopf. Dieser Balanceakt zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus ist anstrengend, aber das ist eben so als Wissenschaftlerin, die in einem Feld voller Minen arbeitet.
Dann sind Sie ja jetzt die richtige Person, um folgende Frage zu beantworten: Inwiefern trägt Israel eine Mitschuld an der jetzigen Eskalation?
Sie trägt zumindest eine indirekte Schuld. In all diesen Jahren hat Israel eine friedliche Konfliktlösung nicht zugelassen. Das musste Israel in all seiner militärischen Stärke auch nicht.
Wie sieht aus Ihrer Sicht die nahe Zukunft im Konfliktgebiet aus?
Das ist schwer zu beantworten. Selbst wenn es Israel gelingen würde, die Hamas zu zerschlagen, wird wohl einfach eine andere Organisation früher oder später ihren Platz einnehmen. Vielleicht ja der islamische Dschihad. Denn solange die israelische Besatzung fortdauert, solange es keinen gerechten Frieden gibt, so lange wird es immer welche geben, die aus dem Konflikt ihren Nutzen ziehen werden.
Mit der Hamas wird es nie Frieden geben und da die Hamas in der Zivilbevölkerung verwurzelt ist, muss man davon augehen, dass es da niemals etwas wie Frieden geben wird.