Sag das doch deinen Freunden!
Junge Männer, die in Frankreich aufgewachsen sind, verüben Attentate in ihrem Land und bringen so viele Menschen wie möglich um. Was ist los mit diesen Leuten?
Amor Ben Hamida: Diese Leute sind benachteiligt, sie sind frustriert und hassen das Land, in dem sie aufgewachsen sind. Wenn sie auf der Arbeitssuche ihren Namen nennen, werden sie abgewiesen. Man gibt ihnen zu verstehen, dass sie nicht dazugehören. Und mit diesen Anschlägen wird es nicht leichter: Dann heisst es, du bist ja ein Terrorist! Es ist ein Teufelskreis.
Eine Stelle nicht zu bekommen – das ist doch kein Grund dafür, dutzende Menschen umzubringen!
Es ist ein Rachefeldzug. Seit Jahren führt Frankreich, führt der Westen Krieg gegen die arabische Welt. Es ist eine Illusion anzunehmen, da komme nichts zurück. Dieser junge Attentäter in Nizza, er hat bestimmt Videos gesehen aus Syrien, aus Libyen, schreckliche Bilder. «Was macht der Westen mit uns», hat er sich vielleicht gefragt. «Sie töten uns zu hunderttausenden, nicht zu dutzenden wie umgekehrt.» Solche Leute sehen sich als Rächer der arabischen Nation.
Aber es sind doch Franzosen. Ist Frankreich nicht ihre Heimat?
Da muss ich kurz ausholen: In den 50er Jahren kamen ihre Grosseltern aus Nordafrika ins Land, um Geld zu verdienen. Sie wollten nicht bleiben, sondern später heimkehren. Deshalb brachten sie ihren Kindern bei: «Du bist Tunesier!» Heute sind sie pensioniert – und fühlen sich immer noch als Ausländer, als Bürger zweiter Klasse. Und der französische Staat hat auch Fehler gemacht; er hat sie in den Banlieues eingesperrt.
Immerhin hat Frankreich viel Geld locker gemacht, um die Situation in den Banlieues zu verbessern – während die Provinz, die «France profonde», vernachlässigt wurde. Auf dem Land leben mehr Arme als in den Vorstädten, sagt beispielsweise der Sozialgeograph Christophe Guilluy.
In Frankreich gibt es seit 15, 20 Jahren grosse Probleme. Die Arbeitslosigkeit hat enorm zugenommen. Früher gab es Arbeit für fast alle. Darum hat der Front National auch solchen Zulauf, weil er die Franzosen ohne Migrationshintergrund bevorzugen will. Die jungen Leute in den Banlieues haben keine Perspektive.
Sie sorgen manchmal selber dafür: Es kommt vor, dass Schulen oder Bibliotheken in den «Quartiers sensibles» einfach abgefackelt werden.
Kriminalität entsteht natürlich bevorzugt dort, wo eine grosse Minderheit arbeitslos ist. Drogenhandel bringt bedeutend mehr ein als Sozialhilfe.
Welche Rolle spielt die Religion? Die einen sagen, die Anschläge hätten nichts mit dem Islam zu tun. Für die anderen ist es zumindest eine der Hauptursachen.
Ein echter Muslim darf nicht töten, nur zur Verteidigung. So gesehen haben diese Anschläge nichts mit dem Islam zu tun. Ganz so einfach ist es aber nicht. Den Koran zu lesen ist nicht leicht; alle Stellen müssen im Kontext gesehen werden. Radikale Imame – oft in Saudi-Arabien ausgebildet – pflücken sich bestimmte Stellen heraus und verknüpfen sie mit der sozialen Wirklichkeit, in der diese Jungen leben.
Zudem sind die meisten Muslime stärker mit ihrer Religion verbunden als durchschnittliche Christen, die höchstens ein paar Mal pro Jahr den Gottesdienst besuchen. Und bei den Muslimen in Europa ist der Islam auch ein Trost – und überdies ein Mittel, die eigene Identität in einer fremden, als feindselig empfundenen Umwelt zu bewahren. Insofern hat das schon mit dem Islam zu tun.
Ist der ausgeprägte Laizismus des französischen Staates ein Grund dafür, dass sich Muslime weniger gut integrieren können?
Das glaube ich nicht. Mittlerweile wird auch in Tunesien über die Trennung von Kirche und Staat diskutiert. Zum ersten Mal in der arabischen Welt, vielleicht vom Libanon abgesehen. Dass Frankreich jetzt besonders von Anschlägen betroffen ist, liegt zuerst einmal daran, dass es hier eine grosse Menge von jungen Männern mit nordafrikanischem Hintergrund gibt – viel mehr als in Grossbritannien oder Deutschland. Und an den französischen Interventionen in der arabischen Welt.
Die Empörung über westliche Schandtaten als Motiv für Massenmord?
Diese Leute befinden sich zwischen Stuhl und Bank. Sie können hier nicht richtig leben, und dort auch nicht. Nehmen wir zum Beispiel diese jungen Tunesier ohne gute Ausbildung, die nach dem Arabischen Frühling nach Frankreich gekommen sind. Sie hatten schon im eigenen Land keine Chance, noch weniger haben sie eine in Frankreich. In ihrem Frust sind sie eine leichte Beute für Extremisten, die gezielt enttäuschte junge Männer akquirieren.
Was soll Frankreich denn tun, damit diese «enttäuschten jungen Männer» keine Anschläge mehr verüben?
Der Westen sollte nicht mehr in der arabischen Welt intervenieren, auch wenn dort furchtbare Kriege wüten. Das würde ihnen ein Argument nehmen. Die meisten Opfer in diesem innerarabischen Konflikt sind übrigens selber Muslime. Wir haben hier einen Krieg, wie ihn Europa im Zeitalter der Reformation ausgefochten hat.
Ein islamischer Dreissigjähriger Krieg?
Ja. Irgendwann, hoffentlich dauert es nicht so lange, wird es auch in der arabischen Welt Religionsfreiheit geben. Doch die Probleme sind enorm. Seit 20 Jahren gibt es einen Rückgang in der arabischen Welt, in den 50er und 60er Jahren herrschten modernere Verhältnisse. Es hat ein massiver Brain Drain stattgefunden. Arbeitslosigkeit, sozialer Druck, Korruption und Vetternwirtschaft verkrüppeln die Gesellschaft.
Gibt es Hoffnung?
So schnell werden diese Anschläge nicht aufhören. Nach einem Anschlag wie in Nizza herrscht Trauer, aber es gibt auch Leute, die den Attentäter als Märtyrer bezeichnen. Es gibt Leute, die sich dadurch ermutigt fühlen, die selber anfangen, Anschläge zu planen – als Racheakt oder Verzweiflungstat.