Er weiss aus erster Hand, was Krieg wirklich bedeutet: Über 30 Jahre lang berichtete Ulrich Tilgner (71) aus dem Nahen Osten. Und erarbeitete sich nicht zuletzt mit geschichtsträchtigen Live-Einschaltungen aus Bagdad einen Kultstatus. Das Schweizer Fernsehen drehte sogar eine Doku über den einst wohl bekanntesten Korrespondenten im deutschsprachigen Raum. «Unser Mann im Irak», hiess der SRF-Film.
Diese Zeiten sind vorbei. Tilgner ist seit 2015 pensioniert und hat sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, gibt nur selten Interviews.
In diesen Tagen findet der Deutsche kaum Ruhe, obschon er in den Weihnachtsferien im Piemont weilt. Es enerviert ihn, was wegen der Liquidierung des iranischen Generals Soleimani durch Donald Trump gerade passiert. Nicht zu knapp.
Herr Tilgner, Sie haben schon viele brenzlige Momente im Nahen Osten miterlebt. Haben Sie eine derart rasche Eskalation zwischen den USA und Iran für möglich gehalten?
Den Amerikanern und insbesondere Trump ist alles zuzutrauen. Bei Trump weiss man nie, was er will. Mal strebt er einen Deal mit dem Iran an, dann tötet er dessen Top-General. Eigentlich wollte der US-Präsident den Iran mit knallharten Sanktionen an den Verhandlungstisch zwingen. Mit der Liquidierung Soleimanis ist diese Option für lange Zeit vom Tisch. Man kann nicht Sanktionen einsetzen und gleichzeitig militärisch agieren. Das ist keine Strategie, sondern völlig töricht.
Die Iraner haben in der Nacht auf Mittwoch einen US-Stützpunkt angegriffen. Ist dies der Auftakt zu einer Angriffsserie?
Das ist bloss Vorgeplänkel. Ich rechne erst einmal mit einer Beruhigung der Lage. Nicht zufällig hat Trump den jüngsten Angriff heruntergespielt. Und es gibt kaum Bilder. Klar ist: Die Iraner versuchen in den US-Wahlkampf einzugreifen, um so Trump direkt zu treffen. Dies indem sie seine Kampagne mit Anschlägen torpedieren. Das passiert jetzt bereits. Ich rechne aber erst in den letzten acht bis zwölf Wochen vor den US-Wahlen mit ‹echten› Angriffen auf amerikanische Armeestützpunkte. Dann beginnt für beide Seiten die heisse Phase.
Was heisst «echte Angriffe»?
Das sind für mich Attacken, denen tatsächlich Dutzende Amerikaner zum Opfer fallen. Von den jüngsten Angriffen im Irak werden Sie bereits morgen nichts mehr lesen.
Wie werden die Iraner vorgehen?
Ich vermute, dass pro-iranische Milizen mit Raketen oder mit Selbstmordanschlägen einen der Dutzenden US-Stützpunkte im Nahen Osten und deren Truppenbewegungen wirkungsvoll angreifen. Aber weiterhin nur punktuell Rache verüben. US-Einrichtungen sind ein ‹weiches Ziel› und leicht zu attackieren. Vielleicht hat die Führung in Teheran aber auch grössere Pläne, etwa einen amerikanischen Spitzenpolitiker umzubringen.
Was denken Sie grundsätzlich über das Vorgehen der USA?
Die Amerikaner schiessen im Nahen Osten gerade Eigentor um Eigentor. Die Lage ist äusserst gefährlich, die Kriegsgefahr steigt markant. Es ist realistisch, dass die US-Truppen bald aus dem Irak abziehen. Denn Generäle der Amerikaner wollen den Irak verlassen. Trump schwimmen langsam die Felle davon, weil er nicht mehr alle Militärs hinter sich hat. Dies zeigt das Verwirrspiel um den angeblich versehentlich veröffentlichten Brief über den US-Truppenabzug aus dem Irak. So was darf einer Weltmacht nicht passieren. Und zeigt auf: Die Tötung von Soleimani ist für Trump nach hinten losgegangen. Mit dem Angriff wollten die USA die Iraner aus dem Irak zurückdrängen. Jetzt müssen sie möglicherweise ihre Truppen zurückrufen.
Und was macht Trump, wenn die Iraner weiter angreifen?
Wenn die Iraner jetzt grossflächig Attacken verüben sollten, müsste Trump sofort zurückschlagen. Aber weder die USA noch der Iran wollen einen offenen Krieg. Das könnte Trump den ganzen Wahlkampf kaputt machen. Wenn schon, dann wird der US-Präsident kurz vor den Wahlen den Iran angreifen. Das könnte ihm unter Umständen die Wiederwahl sichern. Jetzt nicht.
Sie sagten, unter Trump sei den USA alles zuzutrauen. Wie würde ein Krieg gegen den Iran ablaufen?
Man darf den Iran nicht unterschätzen. Die Iraner haben sich in den vergangenen 20 Jahren auf einen asymmetrischen Krieg vorbereitet und werden kämpfen. Sie verfügen über tausende Raketen, die sie auf alle US-Ziele im Mittleren Osten nahezu gleichzeitig abfeuern könnten. Zuerst gäbe es eine massive Angriffswelle von beiden Seiten. Danach wohl ein Fronten-Krieg, der lange vor sich hinköcheln würde. Aber es wird nicht soweit kommen. Denn die iranische Führung würde einen Krieg politisch nicht überleben. Und die amerikanischen Militärs wissen, dass sie schwerste Verluste erleiden würden.
Aber war die Tötung Soleimanis nicht schon an sich eine Kriegserklärung der Amerikaner an den Iran?
General Soleimani befand sich zum Zeitpunkt der Attacke im Irak, also im Ausland. Das ist etwas anderes, als wenn ihn die USA im Iran getötet hätte. Das wäre aus meiner Sicht eine Kriegserklärung gewesen.
Im Iran sind in den letzten Tagen Hunderttausende durch die Strassen gezogen und trauern um den General. Hat sich das gespaltene Land durch die US-Attacke tatsächlich vereint?
Das iranische Regime ist nicht isoliert, wie viele Leute im Westen denken. Sondern hat einen grossen Rückhalt im Volk. Soleimani hatte Kultstatus. Der einfache Iraner fühlte sich zum General hingezogen, weil dieser die Amerikaner in der Region jahrelang auf Distanz gehalten hat. Mit bescheidenen Mitteln versuchte Soleimani im ganzen Nahen Osten, den USA Paroli zu bieten. Das hat den Leuten imponiert. Nach seinem Tod spricht sogar die Staatsführung um Ayatollah Khamenei und die Regierung von Hassan Rouhani eine ähnliche Sprache, während sie mittlerweile mit zwei Zungen sprechen. Soleimani hatte Anhänger weit über die Parteigrenzen hinaus. Das erklärt die grosse Mobilisierung der Massen.
US-Präsident George W. Bush war es, der 2003 den «Präventivkrieg» gegen Saddam Hussein startete und in den Irak einmarschierte. Sie waren damals selbst vor Ort. Nun droht den US-Truppen der Rauswurf. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Bush hat den Irak-Krieg mit Lügen begründet. Die USA wollten dem Irak mit militärischer Waffengewalt Demokratie aufzwingen. Die aktuelle Situation zeigt, dass die Amerikaner im Irak gescheitert sind. Der Sturz von Saddam Hussein hat indirekt dem Iran zu mehr Macht verholfen. Jetzt hinterlassen die Amerikaner im Irak ein totales Chaos. Gut möglich, dass jetzt der Bürgerkrieg wieder richtig aufflammt. Der Irak droht zum ‹failed state› (zu Deutsch: gescheiterter Staat) zu verkommen.
Im Januar treffen am WEF in Davos Spitzenpolitiker aus den USA, Irak und dem Iran aufeinander. Gibt es da Gespräche?
Die grossen Konferenzen sind meist nur für die Kameras. Stille Diplomatie kann hingegen Erfolg bringen. Dank der Vermittlung durch den Oman haben sich die USA und der Iran zuletzt hinter den Kulissen angenähert. Das ist jetzt alles kaputt. Es braucht jetzt einen völlig neuen Vermittlungsansatz.
Einen neuen Ansatz braucht Tilgner womöglich auch für seine nächste geplante Reise. Im Februar wollte er den Irak und Iran besuchen, um dort alte Freunde zu treffen. Tilgner wartet nun erstmal ab. Er hat keine Lust, ausgerechnet als Rentner in eine gefährliche Situation zu geraten. Dies nachdem er während seiner Journalistenkarriere von schweren Zwischenfällen verschont geblieben ist. «Man muss sich jeden Schritt zweimal überlegen»: Nach diesem Motto will er auch seine nächste Reise in den Nahen Osten gestalten.
Nur im Nahen Osten? Da würde ich ja "Naher Osten" mal mit "Weltweit" ersetzen. Und das Eigentor schießen sie ja auch nicht jetzt gerade sondern haben sie schon mit Trump an sich geschossen.
Da können sich übrigens die Briten auch schon mal ansehen, wie das so läuft, wenn man nur noch sein eigenes Ding macht.